Utopia und der süße Brei
11. März 2009 von Friedrich Müller-Reißmann
Es war einmal ein Ort, da hatten die Menschen viel Mühe, satt zu werden. Eines Tages begegnete eine junge Frau beim Pilzsuchen im Wald einer Alten, die ein riesiges Reisigbündel auf ihrem Rücken trug. Die junge Frau sah, dass die Alte unter der Last fast zusammenbrach, und bat sie, das Bündel tragen zu dürfen. Sie wolle mal ausprobieren, ob sie auch eine solche Last tragen könne. Die Alte schaute sie eine Weile verwundert an, dann zog sie plötzlich ein Brot und einen Topf unter ihrer Schürze hervor und sprach: „Weil du so mitleidig und einfühlsam bist, will ich dir zwei Dinge schenken. Das erste ist ein Brot, das nicht abnimmt, wenn man davon isst. Das zweite ist ein Topf, aus dem süßer Brei quillt, solange man ihn aufs Feuer stellt. Dein Herz und dein gesunder Verstand werden dich lehren, meine Geschenke richtig zu nutzen”. Bevor die Frau sich bedanken konnte, war die Alte wie vom Erdboden verschluckt.
Nun begann für die Frau eine neue Zeit. Wenn sie Hunger hatte, aß sie von dem Brot, das dem Körper und der Seele wohltat. Von Zeit zu Zeit überkam sie Lust auf den süßen Brei, dann stellte sie den Topf aufs Feuer und schwelgte in dem nichtalltäglichen Genuss. Obwohl sie immer wieder Bedürftigen von ihrem Brot abgab und manches Kind mit dem süßen Brei erfreute, blieb ihr Geheimnis eine zeitlang verborgen.
Doch allzu viel Güte macht misstrauisch. Vor allem der süße Brei, von dem die Kinder zu Hause erzählten, beschäftigte bald die Phantasie der Leute und weckte ihre Neugier. Sie schlichen um das Haus der Frau und schauten verstohlen durchs Fenster, und eines Tages wurden sie Zeugen des wundersamen Breikochens. Kaum war diese Entdeckung gemacht, gab es kein langes Überlegen. Diesen Topf mussten sie in ihren Besitz bringen, und ehrlich gesagt, das war kein besonderes Kunststück. Was will eine alleinstehende Frau gegen einen ganzen Ort ausrichten! Zum Glück hatte sie noch das Brot, das hatten die Leute nicht entdeckt, denn ihre Aufmerksamkeit war vom süßen Brei gefesselt.
Jetzt ging es mit dem Topf erst richtig los, wir würden heute sagen: er wurde effektiv eingesetzt. Die Leute konnten gar nicht genug von dem süßen Brei bekommen. Sie schleppten ganze Berge von Holz heran und stellten den Topf auf das Feuer und der Topf ließ den süßen Brei quellen. Sie schlugen sich die Bäuche voll, natürlich, wie es immer ist, am meisten diejenigen, die sich am besten vorzudrängeln verstanden. Und die Leute dachten: „Wenn etwas gut ist, dann ist mehr davon besser”, und sie ließen noch größere Berge von Brennmaterial um den Topf herum aufschütten. Dafür holzten sie die Wälder ab und plünderten und durchwühlten die ganze Umgebung nach Brennbarem. Der kochende Topf sah inzwischen wie eine große furchterregende Maschine aus und war so heiß geworden, dass niemand ihn anfassen und vom Feuer nehmen konnte. Zuerst waren die Leute wie verliebt in den süßen Brei und gaben ihm immer neue Namen, wie es Verliebte mit der Geliebten zu tun pflegen, sie nannten ihn „Überfluss”, „Wohlstand”, „Lebensstandard”, „Genuss”, „Spaß”, „Event”, „Erlebnis”. Manche nannten ihn sogar ihren „Status” und trachteten allein deshalb nach ihm, und vor demjenigen, der sich am meisten vom süßen Brei zu verschaffen verstand, verneigten die Leute sich am tiefsten. Sie erfanden auch gleich Theorien zu ihrer neuen Lebensform und nannten sich „Überflussgesellschaft” und „Konsumgesellschaft” und später „Erlebnisgesellschaft”, „Spaßgesellschaft” und sogar „Wissensgesellschaft” (offenbar, weil man so stolz darauf war, dass man wusste, wie man immer mehr süßen Brei produziert). Bald war ein Leben ohne süßen Brei unvorstellbar, und schon der Gedanke, sich auf das Wagnis einer Kindererziehung ohne süßen Brei einzulassen, galt als schiere Verantwortungslosigkeit. Welcher Vater oder welche Mutter würde es übers Herz bringen, seinem einzigen Kind das Leben ohne die ihm zustehende Menge an süßen Brei zuzumuten.
Doch allmählich wurde der überquellende Topf unheimlich. Einige hatten das beklemmende Gefühl, dass man gegen den Topf „anessen” muss. Die Bilder vom süßen Brei verfolgten sie an jeder Straßenecke, die sie ermunterten und anfeuerten, nur ja nicht nachzulassen beim Konsum des süßen Breis. Die Aufrufe nahmen immer drastischere Formen an, ja, sie bekamen eine drohenden Unterton: „Es gibt keine Alternative zum süßen Brei. Ihr müsst essen, essen, essen! Oder wollt ihr eines Tages im süßen Brei ersticken!”. Sogar nachts konnten die Leute von nichts anderem mehr träumen als vom süßen Brei. Und die Träume wurden immer mehr zu Alpträumen.
Doch das Schreckliche erwies sich als so unaufhaltsam wie der Fortschritt. Die Schlacht war nicht zu gewinnen, der süße Brei quoll über. Er quoll und quoll, erfüllte die Straßen und Gärten und Wohnungen der Leute, den ganzen Ort, quoll aus dem Ort heraus und bildete einen riesigen Wall, hinter dem der Ort verschwand.
***
„Das hat unsere Großmutter sauber hingekriegt”, sagte der Teufel lachend zu seinem Cousin. Die beiden beobachteten schon die ganze Zeit das Szenario an ihrem Monitor.
„Ich meine aber fast, dass sie mit ihren Geschenken etwas anderes im Sinne hatte”.
„Mag sein”, erwiderte der Teufel, „die alte Dame zeigt in den letzten Jahrhunderten immer mal wieder Anwandlungen von Gefühlsduselei, aber der Effekt, den sie letztendlich erzielt hat, ist exzellent. Einfach genial. Jetzt liegt Utopia und das Brot des Lebens hinter einem riesigen Wall aus süßem Brei. Jeder, der ahnt, dass hinter diesem Wall ein Geheimnis verborgen ist und zu ihm vordringen will, muss erst diesen Wall durchstoßen. Und ich gehe jede Wette ein, er wird dem süßen Brei verfallen, er wird essen und essen, aber er wird sich nicht durchfressen können und so nie nach Utopia und dem Brot des Lebens gelangen”.
„Irgendwie scheinst du aber doch vor der Attraktivität dieses Brotes Angst zu haben, sonst würdest du dich nicht so darüber freuen, dass es jetzt hinter einem Wall aus süßem Brei verborgen ist”.
„Ach was, schau dir doch dieses Utopia an: ‚Leben im Einklang mit der Natur’, ‚haushälterische Umgang mit den Ressourcen’, ‚sanfte Energie’‚ ‚auf die Stimme der Natur lauschen’, ‚Verantwortung gegenüber kommenden Generationen’, ‚Sparsamkeit’, ‚Ausgewogenheit’, ‚Umsicht'”, der Teufel sprach diese Worte gleichsam mit spitzen Fingern aus, „diese Vision ist einfach langweilig. Damit sind die Massen nicht zu locken!”.
„Ich weiß, du redest den Menschen seit Jahrhunderten ein, dass sie besonders weit kommen, wenn sie nicht nach links und rechts schauen und ihre Ziele fest im Blick haben und mit aller Macht verfolgen. Du hast dafür das schöne Wort ‚zielorientiert’ erfunden. Immer mehr Menschen werden sich des Preises bewusst, den sie dafür bezahlen müssen. Und eine Ahnung, dass es noch eine ganz andere Form des Glücks geben könnte, eine, die mehr auf dem Glück aller beruht, haben sich nicht wenige Menschen bewahrt. Die Vision eines Lebens ohne Raubbau an den Lebensgrundlagen, ohne Beschädigung fremden Lebens, die Idee einer nachhaltigen Entwicklung der Menschheit insgesamt gewinnt an Boden”.
„Ach was, die Menschen wollen Erfolge und Effekte, Durchbrüche, Knalleffekte, Wirkungstreffer. Gewaltige Staudämme, die riesige Strommengen liefern, ein kompaktes Atomkraftwerke statt tausend verstreute Windmühlen, ständig höhere höchste Gebäude der Welt, Flüge zum Mars, noch mehr Beschleunigung, phantastische neue Waffen. Das volle Programm. Schneller, größer, effektiver – das ist geil, Verantwortung und Rücksichtnahme auf andere – wie ätzend!”
„Eigentlich solltest du dich als Jahrtausendfigur nicht auf das Sprachniveau der heutigen Kindergeneration begeben und ihre Ausdrucksweise nachäffen. Aber wahrscheinlich hast du es nötig, bei immer jüngeren Menschen zu punkten. Du bist auf der Verliererstraße, und ich glaube, du weißt es. Denn jeder Effekt hat einen Schatten, den auch du nicht wegzaubern kannst: den Abnutzungseffekt. Und falscher Glanz nutzt sich besonders schnell ab, und deshalb musst du immer dicker auftragen. Du benötigst immer größere Effekte, um dich deiner Gefolgschaft zu versichern. Du musst schon überall mit Verstärkern arbeiten, um den gleichen Effekt zu erzielen, den du gestern noch ohne Verstärker erzielt hast, du brauchst immer stärkere Schallverstärker, Geschmacksverstärker, Reizverstärker aller Art. Dein süßer Brei muss immer süßer werden. Wenn du immer mehr Lärm machen musst, um noch gehört zu werden, kommt unweigerlich der Tag, an dem niemand mehr auf dich hört. Und dann werden die Menschen ihren eigenen Verstand benutzen”.
„Ach was, das wird nie passieren. Ihre Gedanken kreisen doch nur um ihren Vorteil. Der Mensch ist nun mal egoistisch und kurzsichtig, raffgierig und unersättlich. Wie sagt doch der Dichter? ‚Die Krone der Schöpfung – das Schwein, der Mensch‘”.
„Ich weiß, dein bester Bundesgenosse ist der Glaube an die Schlechtigkeit des Menschen. Mir sind im Laufe der Jahrhunderte daran große Zweifel gekommen”.
„Das sagst du angesichts von Mord und Totschlag, Kriegen, Raubzügen, Vergewaltigung, Terror, Unterdrückung, Verrat, korrupten Politikern, die wegschauen, und …”.
„Und all der anderen Verbrechen und Schandtaten. Ja, du hattest gewaltige Erfolge. Aber ich sehe auch die namenlose Zahl von anständigen, mitfühlenden, hilfsbereiten Menschen, die keineswegs von der Gier nach immer mehr Reichtum und Macht zerfressen werden. Diese Menschen fallen natürlich weniger auf, aber dir als Teufel sollten sie eigentlich aufgefallen sein, denn an denen hast du dir die Zähne ausgebissen”.
„Ha, ich werde nie an meinem Menschenbild zweifeln!”.
„Na schön”, erwiderte der Cousin des Teufels, „aber ich bezweifle, ob sich die Menschen auf die Dauer an dein Menschenbild halten werden”.