Eines Tages bekam der Dachs Besuch von seiner Nichte, einer Studentin aus der Hauptstadt. „Endlich mal eine kompetente Zuhörerin für mich“, freute sich der Dachs, „eigentlich bin ich es leid, meiner Frau immer alles an ganz einfachen Beispielen erklären zu müssen. Und der neunmalkluge Fuchs geht mir auf die Nerven“. Er musste nicht lange warten, da fiel das Stichwort:
„Mama war nun auch nicht mehr zu bremsen, nachdem alle ihre Kollegen Aktien gekauft haben, letzte Woche hat sie ihr Sparbuch an die Börse getragen“.
„Das habe ich ihr schon lange geraten, aber sie war leider immer schon etwas konservativ und unflexibel. Aber irgendwann begreift es jeder“. Der Dachs legte sich ins Zeug: „Ja, wenn die Börsenkurse steigen, ist die Wirtschaft gesund, die Konjunktur ist in Fahrt, die Wirtschaft brummt, der Rubel rollt…“
„… und die Arbeitslosigkeit steigt!“
„Mein Gott, immer kommt das mit den Arbeitslosen. Das ist natürlich ein Problem. Die Konjunktur muss eben noch mehr in Fahrt kommen, dann wird das auch auf den Arbeitsmarkt durchschlagen“.
„Mit anderen Worten: eine gesunde Wirtschaft reicht nicht, sie muss gesünder als gesund werden, übergesund sozusagen?“
Der Dachs wand sich: „Ja, nein, also … nun ja …“. Doch plötzlich hatte er den rettenden Einfall: „Übrigens gehören Arbeitslose, wie schon das Wort sagt, gar nicht zur Wirtschaft“.
„Das leuchtet mir irgendwie ein“, meinte die Nichte, „denn wenn sie dazu gehörten, wären sie ja nicht arbeitslos. Aber wenn sie nicht arbeitslos geworden wären, würden sie noch dazugehören?“.
„Ja, selbstverständlich, aber dann wäre die Wirtschaft nicht wettbewerbsfähig, weil sie viel zu hohe Kosten hätte, wie im Ostblock, wo die Wirtschaft die ganzen Arbeitslosen mitschleppen musste. Eine kranke Wirtschaft war das, eine ganz kranke…“
„Ah ja, ich verstehe. Du meinst, für eine Wirtschaft sind Arbeitskräfte so was wie Krankheitserreger, ein paar verkraftet sie, aber wenn es zu viel sind, wird sie krank“.
„Äh, also, so würde ich das nicht ausdrücken … Aber eines steht fest, wären solche Betriebe, wie die sie im Osten hatten, an unserer Börse, ihre Aktien wären vielleicht im Keller, sage ich dir!“
Die Studentin nickte zustimmend: „Wer kennt die Börse besser als du! Aber sag mal, ich höre neuerdings so oft ‚Die Konzerne X und Y haben fusioniert’ und dann heißt es immer, es werde mit einem Stellenabbau von 24.000 Mitarbeitern oder so gerechnet. Und dann steigen sofort die Aktien von denen“.
„Ja, selbstverständlich. Wenn weniger Lohnkosten anfallen, steigen die Gewinne. Das bedeutet dann, dass auch die Renditen für die Aktionäre wachsen. Und vor allem wollen dann auch andere diese Aktie haben, weniger wegen der Rendite, sondern weil sie wissen, das noch andere auch die Aktie haben wollen, womit sie recht haben, und damit steigt ihr Wert. So einfach ist das“.
„Wenn also jetzt Mama Aktien von dem Unternehmen gekauft hat, bei dem sie beschäftigt ist, hat sie also ein Interesse, dass ihr Arbeitsplatz wegrationalisiert wird? Denn dann steigen ihre Aktien“.
„Hm, ja, nein … Nun, wenn sie zufällig Aktien vom eigenen Unternehmen hat …, aber das ist ein konstruiertes Beispiel. Aber insgesamt ist es gut, auch für deine Mutter, wenn unsere Wirtschaft gesund ist und die Unternehmen international wettbewerbsfähig sind. Und dazu müssen die Kosten gesenkt werden“.
„Und je geringer die Kosten der Wirtschaft, desto gesünder und wettbewerbsfähiger ist sie?“
„Selbstverständlich!“
„Und je kleiner die Zahl der Beschäftigten, mit der die Wirtschaft auskommt, desto geringer sind ihre Kosten?“
„Ja, natürlich“, fast schon etwas gereizt kam die Antwort des Dachses.
„Und wir brauchen unbedingt eine gesunde Wirtschaft?“
„Natürlich, das ist das Gesetz des internationalen Wettbewerbs. Die kranken Unternehmen werden von den gesunden gefressen, bildlich gesprochen natürlich“.
„Und bei jedem solchen Fressvorgang verschwinden wieder Arbeitsplätze und übrig bleiben nur die Unternehmen, die mit einer geringen Zahl an Arbeitsplätzen auskommen?“
„Ja, und?“
„Die Konkurrenz geht unvermindert weiter. Jedes Unternehmen muss nun versuchen, mit noch weniger Arbeitskräften auszukommen, damit es zu den gesunden gehört und nicht zu den kranken. Irgendwann gibt es praktisch überhaupt keine Arbeitsplätze mehr“.
„Ja, ja, sag ich doch, die Arbeitslosen gehören nicht zur Wirtschaft; vergiss endlich die Arbeitslosigkeit! Arbeitslos ist nur, wer glaubt, mit Arbeit Geld verdienen zu müssen. Das ist Schnee von gestern. Die Zukunft gehört dem Aktionär. Je weniger die Wirtschaft Arbeitskräfte einsetzen muss, desto höher sind die Gewinne und umso besser kann man von Aktien leben. Das ist das zukunftsweisende Leitbild: Eine wachsende gesunde Wirtschaft, die gerade dadurch gesund ist, dass sie keine Arbeitsplätze schafft, sondern immer mehr abbaut“, der Dachs geriet allmählich in Begeisterung über seine Vision.
„Das haben die Politiker aber dann noch nicht so richtig begriffen. Denn sie versprechen nicht den Abbau der Arbeit, sondern den Abbau der Arbeitslosigkeit durch Wachstum. ‚Die Überwindung der Arbeitslosigkeit ist unser vordringlichstes Problem’, sagen sie. ‚Wir müssen deshalb alles tun, damit die lahmende Konjunktur wieder in Schwung kommt’. Und wenn das endlich gelingt und die Arbeitslosigkeit trotzdem nicht sinkt, sagen sie: ‚Der Aufschwung geht leider noch am Arbeitsmarkt vorbei. Wir brauchen noch mehr Wachstum’. So ähnlich hast du bisher doch auch immer argumentiert, oder?“.
„Ja, das gebe ich zu. Aber der Dachs ist lernfähig“, nicht ohne sichtliche Befriedigung betonte der Dachs jedes Wort. „Ja, ich war auf dem falschen Dampfer, habe mich vom Politikergerede einlullen lassen – die halten sich für besonders progressiv, in Wahrheit sind das Berufstraditionalisten, Strukturkonservative, Reaktionäre, die die Zeichen der Zeit nicht verstanden haben. Es ist aussichtslos, durch Wachstum, die Arbeitslosigkeit überwinden zu wollen, das ist Illusion wegen des technischen Fortschritts. Wo gestern noch Gabelstapler fuhren und Lagerverwalter herumrannten, wird heute die ganze Logistik vollautomatisch abgewickelt, und wo heute noch ein Baggerfahrer sitzt, sitzt morgen ein Roboter. Nein, durch Wirtschaftwachstum wieder ausreichend Arbeitsplätze schaffen zu wollen, das ist nicht nur aussichtslos, das ist grundsätzlich der falsche Weg“, der Dachs kam immer mehr in Fahrt. „Wenn wir eine Wirtschaft ohne Arbeiter haben (bis auf die Handvoll absoluter Spitzenleute, die man immer braucht), ist das ganze Problem der Arbeitslosigkeit gegenstandslos. Das ist die Lösung! Irgendwann hat keiner mehr Arbeit, aber alle haben Aktien. Sie verdienen ihr Geld mit Aktien, nicht mehr mit Arbeit. Das wäre die Verwirklichung eines alten Ideals. In den Fabriken arbeiten die Maschinen, die Automaten, die Roboter, nicht mehr die Menschen. Dafür gehören ihnen jetzt die Fabriken. Das wären die wahren volkseigenen Betriebe. Was die da im Ostblock hatten, das waren doch keine volkseigenen Betriebe, sondern volksarbeitende Betriebe. Betriebe, die dem Staat gehört haben und in denen das Volk arbeiten musste. Erst der Kapitalismus schafft den echten volkseigenen Betrieb …“.
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„Sehr eindrucksvoll, was sich da der Dachs ausgedacht hat mit der Volksaktie“, meinte der Chefökonom der Dachsen Bank, „es gibt nur einen kleinen Haken: das ganze System funktioniert auch, wenn nur ein paar wenige die Aktien und damit die Betriebe besitzen. Aber auch dafür gibt es eine Lösung: Die arbeitslosen Massen werden durch staatliche Sozialhilfe oder Bürgergeld (oder wie immer man das Kind nennen mag) mit ausreichend Geld munitioniert, damit der Kreislauf von Produktion und Konsum in Schwung bleibt“.
„Noch nicht mal das ist aus meiner Sicht ein Thema“, fügte der superreiche Aktienbesitzer hinzu. „Alles, was ich brauche, wird produziert, für die personenbezogenen Dienstleistungen, die ich in Anspruch nehme, kann ich aus einem überreichen Reservoir auswählen. Wozu die Massen von Menschen, die ich nicht brauche? Will sagen, für das Funktionieren des Systems braucht man diese vielen Leute gar nicht“.
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Die Alternative zur Resignation
Ohne Zweifel, denkt man nur aus der herrschenden Logik der Wirtschaft (einschließlich des ihr zugrunde liegenden Axioms vom Selbstautomatismus des technischen Fortschritts als unaufhaltsame Steigerung der Arbeitsproduktivität), braucht man in Zukunft nur eine Minderheit von Arbeitenden. Von daher ist der Arbeitslose in der Tat kein Thema für die Wirtschaft. Allenfalls spielt die Arbeitslosigkeit eine zeitlang in einer Übergangsphase eine Rolle als Schreckgespenst – zur Durchsetzung möglichst niedriger Löhne. Doch je geringer die Zahl der noch benötigten Arbeitsplätze ist, desto bedeutungsloser wird auch diese Funktion.
Wie steht es mit der Rolle der Arbeitslosen als Konsumenten? Von der rein ökonomischen Systemlogik her braucht man keineswegs diese Masse unterversorgter, bescheidener „Mitesser“. Angesichts der hohen Produktivität ist die Überversorgung der reichen Minderheit auch ohne sie völlig gewährleistet. Die Mehrheit spielt allenfalls aus sozialpsychologischen Gründen für die Minderheit eine gewisse Rolle: als dunkle Folie, auf deren Hintergrund man die eigene privilegierte Lage zu schätzen weiß. Aber selbst dafür ist nicht eine so große Menge von Armen erforderlich.
Das klingt zynisch, zeigt aber die schwierige Lage, in der sich heute eine wachsende Zahl von Menschen befindet. Das ökonomische System selber bietet ihnen – anders als in den klassischen Arbeitskämpfen um die Verteilung der Gewinne („Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will“) kein Druckmittel, um ihre Lage zu verbessern. Solange sich die Gesellschaft dem Primat der Ökonomie unterwirft, wird sie mit tödlicher Sicherheit den Schreckensweg gehen, auf dem immer mehr Menschen keine Perspektive haben. Es gibt aus meiner Sicht nur einen Ausweg: die Gesellschaft muss sich aus ihrer Hörigkeit gegenüber der Wirtschaft (vor allem der „Geldwirtschaft“) befreien, und autonom – nach Maßgabe menschlicher Werte – Regeln setzen, denen sich auch die Wirtschaft zu unterwerfen hat. Der Versuch von Arbeitslosen, sich als Arbeitslose zu organisieren, mit dem direkten Ziel, wieder in den Arbeitsprozess eingegliedert zu werden, würde nichts bringen. Arbeitslose haben als Arbeitslose einfach kein Druckmittel gegenüber der Wirtschaft. (Selbst die bei uns noch Arbeit haben, werden in einer globalen Welt immer machtloser, da sie mit Abermillionen von Arbeitslosen, die zur Arbeit unter den erbärmlichsten Bedingungen bereit sind, um zu wenige Arbeitsplätze konkurrieren müssen). Arbeitslose haben nur als Bürger ein Druckmittel – gegenüber dem (demokratischen) Staat. Arbeitslose müssen massenhaft in die politischen Parteien eintreten, oder eine eigene Partei gründen, und/oder sich in den neuen sozialen Bewegungen wie ATTAC engagieren. Tun sie es nicht, kehren sie im Gegenteil der Politik enttäuscht und resignierend den Rücken, gehen nicht mehr zu Wahl, so haben sie überhaupt keine Chance. Auch die Partei, die bei einer Wahlbeteiligung von nur noch 50% oder weniger die Mehrzahl der Mandate bekommt, schwimmt munter im alten Fahrwasser weiter.
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Jammern – weder eine politische noch eine individuelle Lösung. Durchstarten – eine individuelle Lösung für die Schnellsten. Die politische Kultur hat ihren Tiefpunkt erreicht, wenn sich die Politiker damit begnügen, die Durchstarter anzufeuern, und wenn den Verlierern nichts Besseres einfällt, als die Gewinner halb neidisch halb fasziniert zu beklatschen.