Mehr Eigenverantwortung – die private Lösung des Rentenproblems
11. März 2009 von Friedrich Müller-Reißmann
Mit Dachsland ging es bergab. Es nützte nichts, dass der alte zahnlose Tiger, den sich der Löwe als Zeremonienmeister am Hofe hielt, immer wieder den „Ruck“ beschwor, der endlich durch Dachsland gehen müsse. Vor allem die Altersversorgung der Dachsländer war nicht mehr zu garantieren, da viel zu wenige Frischlinge in Dachsland geworfen wurden. Es drohten drastische Rentenkürzungen. Das bis dahin Undenkbare wurde zur fixen Idee: Es würde den Dachsländern morgen schlechter gehen als heute! Unfassbare Wahrheit in einem Land, das doch den Fortschritt fest im Griff hatte! (Oder war es umgekehrt? Hatte der Fortschritt Dachsland fest im Griff?).
Unsicherheit und Ratlosigkeit griffen um sich. Was tun? Nach langem Hin und Her entschloss sich der Löwe, die Große Anhörung einzuberufen, zu der alle Bürger des Landes eingeladen wurden. Zuerst kamen natürlich die Hofexperten zu Wort, obwohl deren Litaneien schon jedem Zeitungsleser in ganz Dachsland hinlänglich vertraut waren. Sie malten wie üblich die Lage schwarz in schwarz, untermauerten den Rückgang der Bevölkerung mit Kurven und Statistiken, beklagten die Kinderfeindlichkeit im Lande und beteuerten gleichzeitig, dass man wenn überhaupt nur ganz langfristig etwas dagegen unternehmen könne. Ein alter Biber drückte seine Verwunderung darüber aus, dass das Ausbleiben der Kinder die ganze Zeit über in Dachsland kein Thema gewesen war. „Erst nachdem uns die Experten vorgerechnet haben, dass es deswegen mit der Rente Probleme geben würde, sind wir unruhig geworden“, rief er und fügte traurig hinzu: „Ist es denn nicht tausendmal schlimmer für unser Leben, dass wir keine Kinder mehr haben, als dass unsere Renten gekürzt werden müssen?“. Nun, was soll man dazu sagen? Irgendwelche Spinner gibt es auf jeder Versammlung. Doch man hörte wider Erwarten beifälliges Gemurmel, und es bestand Gefahr, dass sich einige auf diese Kinderfrage einlassen würden und damit das eigentliche Thema in den Hintergrund geraten könnte. Das war die Stunde des Dachses!
„Wir haben doch von den Experten gehört, dass sich an der Sache mit den Kindern wenn überhaupt nur ganz langfristig etwas ändern lässt. Wir brauchen eine pragmatische Lösung für unser Problem. Wie kann jeder von uns persönlich sicherstellen, dass er im Alter noch genau so gut leben kann wie heute? Das ist doch die eigentliche Frage“, rief er laut in die versammelte Runde. „Und genau auf diese Frage gibt es nur eine einzige Antwort: Wir müssen privat vorsorgen!“.
„Warum denn das?“, ertönte es von allen Seiten, „wir zahlen doch ein Leben lang in die Rentenkasse ein, da muss dann doch für uns genug Geld drin sein für die Rente!“.
„Ihr habt nichts verstanden“, seufzte der Dachs, „das Geld liegt doch nicht in der Kasse herum und wartet auf euch, bis ihr in die Rente geht. Von dem, was ihr heute einzahlt, werden die heutigen Renten finanziert, und die können noch relativ hoch sein, weil ihr, die ihr einzahlt, noch relativ viele seid. Doch wenn ihr mal ins Rentenalter kommt, wird es nur sehr wenige geben, die arbeiten und in die Kasse einzahlen. Das ist die Lage und davon beißt die Maus keinen Faden ab. Vom staatlichen Rentensystem können wir in dieser Lage keine ausreichende Altersversorgung erwarten. Wir müssen selbst handeln“.
Der Dachs ließ seinen Blick über die Versammlung schweifen, und als er in der Riege der Hofexperten nur zustimmendes Nicken sah, fügte er feierlich hinzu:
„Nur durch mehr Eigenverantwortung können wir uns einen Lebensabend in Wohlstand sichern“.
„Amen“, murmelte der Fuchs.
Um es kurz zu machen: Auch der Löwe war von der Idee begeistert. Er versicherte alle, die sich an dem Sparprogramm zur privaten Altersvorsorge beteiligen würden, nicht nur seines königlichen Wohlwollens, sondern stellte jedem eine kleine finanzielle Prämie als zusätzlichen Anreiz in Aussicht. Unter diesen Umständen wurde nicht mehr lange diskutiert. So endete die Große Anhörung mit einem großen Erfolg. Man ging freudig auseinander – im Gefühl, in Zukunft mit staatlicher Weihe und Unterstützung das tun zu dürfen, was man ohnehin schon seit geraumer Zeit aus Verunsicherung und Zukunftsangst getan hatte: zu sparen, wo es nur ging.
Auf dem Nachhauseweg sagte der Fuchs zum Dachs: „Dein Vorschlag ist deiner würdig“. Dem Dachs war der Kamm so geschwollen, dass er darauf gar nichts erwiderte. Doch in seinem Schädel rumorte es und schließlich platzte er heraus:
„Alle waren von meinem Vorschlag angetan: der König, die Hofexperten und die große Mehrheit. Nur du findest natürlich wieder ein Haar in der Suppe?“.
„Meinst du ernsthaft, wenn wir alle jetzt sparen, haben wir in Zukunft alle mehr zum Leben? Wie soll denn das gehen? Stell dir vor, da gibt es einen Kuchen, und plötzlich kommen zehn Leute, die großen Hunger haben und so viel Geld in der Tasche, dass sie mehrere Kuchen kaufen könnten, aber es gibt nur einen. Was meinst du wird passieren?“.
„Der Kuchen wird nicht reichen. Die ersten werden was abbekommen, die anderen gehen leer aus“.
„Der Bäcker müsste ja schön blöd sein. Gerade du solltest von der Marktwirtschaft etwas mehr verstehen. Nein, der Preis des Kuchens wird in die Höhe gehen, und im Endeffekt haben alle trotz ihres reichlichen Geldes nur ein kleines Stück“.
„Unsinn“, der Dachs bekam Oberwasser, „in einer Marktwirtschaft werden schnell weitere Kuchen produziert, wenn die Nachfrage steigt“.
„Also schön“, holte der Fuchs aus, „wir sparen heute noch mehr als bisher für unsere Zukunft. Was wird die Folge sein? Unsere Firmen werden noch mehr auf ihren Waren sitzen bleiben. Noch mehr Unternehmen in Dachsland werden aufgeben. Das Geld, das wir sparen, stellen wir natürlich nicht den Unternehmen in Dachsland zur Verfügung, damit sie sich weiter entwickeln und modernisieren können – warum auch? Denn erstens wird dafür in einem Land, wo die Leute beim Konsum sparen, keine allzu große Nachfrage existieren, und zweitens wollen wir vor allem, wenn wir schon fürs Alter sparen, das Geld möglichst kräftig vermehren. Wenn wir heute auf Leistungen verzichten, dann sollen unsere Anrechte auf Leistungen, die wir später beanspruchen, so hoch wie möglich sein. Logisch! Also ab mit dem Gesparten zur Spekulation an die Börse – nein, das schaffen nur die ganz Gewitzten, lieber damit ins Ausland, wo die Wirtschaft boomt und hohe Renditen locken – gut, aber wie geht das? Also hin zu den großen Fonds mit ihren Finanzprofis – die werden schon die richtige Mischung aus Spekulation und Ausland für uns finden!“.
Der Dachs verdrehte die Augen: „Ich weiß schon, wie es weitergeht. Bilanzfälschungen, Börsenskandale, Fehlspekulationen, Kurs-einbrüche, Finanzkrisen – die ganze Leier!“.
„Ganz im Gegenteil“, fuhr der Fuchs ungerührt fort, „ganz im Gegenteil, ich nehme mal an, dass das mit der Anhäufung von Vermögen zwecks Altersvorsorge bei der großen Mehrheit der Dachsländer klappt. Und was heißt das? Die jetzige Generation hat sich mit den angesparten Geldvermögen einen riesigen Berg von Anrechten auf Leistungen erworben. Den will sie nun im Alter in Anspruch nehmen. Aber wer soll die Leistungen erbringen? Die Wirtschaft in Dachsland hat sich nicht entsprechend entwickelt (es wurde in Dachsland gespart und im Ausland investiert) und außerdem – das war ja der Ausgangspunkt der ganzen Überlegung – gibt es wegen des Bevölkerungsrückgangs in Dachsland in der Zukunft nur wenige Junge, die die Leistungen für die vielen Alten, die kräftig konsumieren wollen, erbringen können. Was wird passieren, wenn viel Anrecht auf Leistung (= Geld) vorhanden ist und wenig Leistungen (= Waren und Dienstleistungen) zur Verfügung stehen? Ganz einfach: die Leistungen werden teurer – sprich: Inflation! Alles klar, lieber Vetter?“.
Nicht ganz ohne Häme fuhr der Fuchs fort: „Anrechte auf Leistungen sind immer Papier. Sie können nicht realisiert werden, wenn ihnen keine entsprechende Leistungskraft gegenübersteht. Wenn das Anrecht auf irgendwelchen Rentenformeln beruht, müssen die angepasst und die Renten gekürzt werden. Wenn der Anspruch aufgrund von Geld besteht, muss das Geld durch Inflation ‚gekürzt’ werden. So einfach ist das. Wenn unsere wirtschaftliche Leistungskraft in Zukunft gering sein wird, weil a) zu wenig Junge nachwachsen und b) weil wir (und davon war noch gar nicht die Rede) schändlicherweise die zu wenigen Jungen noch nicht einmal mit allem Nachdruck gut ausbilden, sondern zum Teil in Arbeitslosigkeit verkommen lassen, dann werden wir in Zukunft den Preis dafür bezahlen müssen – so oder so“.
Lange dachte der Dachs nach. „Aber als private Lösungsstrategie taugt mein Weg doch?“, fragte der Dachs plötzlich mit schlauer Miene.
„Sicher, wenn die Mehrheit nicht spart, dann bist du fein heraus und kannst im Alter dein erspartes und vermehrtes Geld voll genießen. Hahaha, du hättest deine fabelhafte Idee nicht auf der Vollversammlung ausposaunen sollen“.
*
Liebe Leute, ist es wirklich so schwer zu begreifen, dass der nicht (mehr oder noch nicht) arbeitende Teil einer Gesellschaft immer von dem arbeitenden Teil mit Gütern und Dienstleistung mitversorgt werden muss und dass daran grundsätzlich nichts durch die Art und Weise der Finanzierung zu ändern ist? Wenn der Ausgangspunkt dieser ganzen Kampagne zugunsten privater, kapitalgedeckter Vorsorge tatsächlich stimmt, nämlich, dass die wenigen Arbeitenden die Renten der vielen nicht arbeitenden Menschen nicht mehr erwirtschaften können, d.h. sie nicht mehr auf Wohlstandsniveau „durchfüttern“ können, warum sollen die wenigen Arbeitenden das plötzlich können, wenn die vielen Alten mit ihrem angesparten Geld daherkommen? Aber stimmt die Voraussetzung überhaupt? Warum sollte eigentlich angesichts der hohen und noch immer wachsenden Produktivität, die heute schon zu einer nicht absetzbaren Überproduktion führt, hier so ein gigantisches Problem bei der Versorgung der Rentner entstehen, dass wir es nicht mehr im Rahmen des solidarischen Umlageverfahrens in den Griff bekommen? Wenn es dieses Problem aber nicht gibt, warum sollen wir das bewährte Umlageverfahren der Rente, das sogar nach den Katastrophen zweier Weltkriege weiter funktioniert hat, durch eine private kapitalgestützte Rente ersetzen? Wer glaubt ernsthaft an die Stabilität dieses überdynamischen, spekulativen Weltfinanzsystems für die nächsten Jahrzehnte? Eigenen Interessen dienen wir eher nicht, wenn wir uns auf dieses unsichere Spiel einlassen, aber sicher den Interessen der privaten Versicherungswirtschaft, die nach unserem Geld giert, um damit heute ihre Geschäfte zu machen.