Geld ist wie Wasser – es muss fließen
11. März 2009 von Friedrich Müller-Reißmann
Der Dachs hatte mit seiner Frau einen Abendspaziergang gemacht und saß nun sinnend mit ihr am Ufer eines kleinen Flusses. Das fließende Wasser übte immer eine große Faszination auf ihn aus, besonders wenn es glitzerte und funkelte wie jetzt im Licht der untergehenden Sonne – dann erinnerte es ihn irgendwie an flüssiges Geld. „Kennst Du die Geschichte von der Regentrude?”, fragte der Dachs unvermittelt. Die Dächsin reagierte leicht beleidigt: „Natürlich, die von Theodor Storm, die habe ich erst neulich unseren Kleinen vorgelesen und du warst doch dabei”.
Unbeeindruckt von den Gefühlen seiner Frau fuhr der Dachs in seinem Gedankengang fort: „Wenn der Himmel zu lange das Wasser zurückhält, dann trocknet die Erde aus, es kann nichts mehr wachsen. Als die Regentrude eingeschlafen war und kein Regen mehr fiel, verdorrten die Felder und Wiesen. Nur der Sumpfbauer machte noch eine Weile gute Profite. So wie mit dem Wasser ist es auch mit dem Geld – es muss fließen, und wo es hinfließt, sprießt Leben”.
„Leider fließt es nicht überall hin”, bemerkte die Dächsin trocken, „wenn du mich fragst, ich finde, zu manchen Leuten könnte ruhig etwas weniger fließen und zu vielen anderen etwas mehr”.
„Madam Blauauge”, bellte der Dachs, „dein Ideal ist Nieselregen über das ganze Land, da kommt es überhaupt nicht zu richtig fließendem Wasser”. Er versank in Schweigen und starrte auf den strömenden Fluss, der für den Moment jede Faszination verloren zu haben schien. Doch innerlich brannte er vor Ungeduld, die Sache mit dem Geld ins Lot zu bringen. Schließlich seufzte er vernehmlich und setzte zu einer längeren Rede an:
„Ich werde es dir noch einmal erklären, zum allerletzten Mal. Es gefällt dir also nicht, dass da so viel Wasser zu gewissen Leuten fließt? Es empört deinen Gerechtigkeitssinn, dass die Reichen in den feinsten Restaurants speisen und in den teuersten Hotelbetten schlafen? Doch was machen sie da? Sie geben Geld aus. Wie gewonnen, so zerronnen, sagt der Volksmund. Nach alle Seiten rinnt das Geld. Hotelmanager, Spitzenköche, Kellner, Bardamen, Zimmermädchen – alle leben von diesem Geld, und die ihrerseits geben dieses Geld aus bei ihren Bäckern, Fleischern, Frisören usw. Von den Architekten, Ingenieuren, Maurern, Teppichlegern, Gärtnern, Fensterputzern usw. usw., die das Hotel gebaut haben und pflegen, ganz zu schweigen. Wohin immer das Geld fließt, dort wächst es und gedeiht es, dort sprießt etwas aus dem Boden, was vorher nicht war. Schafft Arbeitsplätze, eröffnet Chancen”.
Die Dächsin hatte sich ihrem Schicksal ergeben und ließ es stumm über sich ergehen. Wahrscheinlich hörte sie gar nicht mehr zu, aber der Dachs in seinem Eifer hätte wohl nicht einmal gemerkt, wenn sie eingeschlafen wäre.
„Da gibt es so ein paar Berufskritiker”, fuhr er fort, „die sagen: ‚Da bauen sie schon wieder einen viel zu pompösen Regierungspalast, eine überdimensionale Versicherungszentrale, einen noch höheren Bankenturm’. Na und? Meinetwegen sogar eine Bauruine. Die übersehen doch völlig, wie viele Betonfacharbeiter dadurch ihre Familien ernähren können. Und selbst wenn weißer Marmor verbaut wird, die Arbeiter in den Steinbrüchen von Carrara und all die Lastwagenfahrer, die die Steine transportieren, freuen sich”. Dieses Beispiel fand er besonders gelungen, wusste er doch, dass die Dächsin von einer Freitreppe aus weißem Marmor träumte.
„Ja, Geld muss fließen. Schnell fließen. Durch Prachtstraßen fluten, über Marmorstufen springen, Magnetscheiben zum Vibrieren und Glasfassaden zum Glitzern bringen, hinströmen zu Rennpisten, Boxarenen, Superdomen, hin zu allem, wo sich die Leute tummeln, aus deren Taschen das Geld nur so rinnt – dann schwillt der Geldstrom an und erfüllt seinen Zweck”.
„Aber”, fragte plötzlich die Dächsin, die keineswegs geschlafen hatte, „wie kommt das Geld dann überhaupt an Orte, die nicht viel Glänzendes zu bieten haben. Die werden vertrocknen!”.
Doch der Dachs war nicht um die Antwort verlegen, wie aus der Pistole geschossen kam seine Erwiderung: „Keineswegs. Sie müssen nur, was sie an Glanzpunkten besitzen, aufpolieren und ins rechte Licht rücken, und wenn das nicht reicht, neue Glanzpunkte inszenieren. Das ist ihre Chance. Ich will dir ein Beispiel geben. Ein Investor hat mit seinem Geld ein altes Ostseebad, das heruntergekommen war, zu einem phantastischen Luxusort gemacht. Natürlich können sich nur Reiche den Aufenthalt dort leisten, aber das ist kein Problem, im Gegenteil: gerade dadurch kommt Geld in die Region, werden Arbeitsplätze geschaffen. Leute verdienen Geld, das sie wiederum ausgeben, was anderen zugute kommt usw. So geht es voran. Der Geldfluss wird nach und nach alles glatt schleifen und auf Hochglanz polieren, und dann wird weiteres Geld fließen. So ist es allein der Geldfluss, der uns in eine nachhaltige Zukunft trägt”.
„Ach, übrigens”, sagte die Dächsin, „gestern bekam ich einen Brief von meiner Cousine, in dem sie mir mitteilte, dass ihre beiden Söhne nun auch nach Großdachsstadt gezogen seien, um Arbeit zu suchen. Ihr schöner, traditionsreicher Bau stünde ziemlich verwaist da, nur noch der behinderte Bruder und die alte Mutter lebten jetzt noch mit ihr dort”.
„Dass du niemals beim Thema bleiben kannst”, knurrte der Dachs verdrossen.
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Geld muss fließen – ohne Frage: in der Schublade, im Tresor oder auf dem Girokonto gehortet ist Geld stillgelegt, außer Funktion gesetzt. Es fehlt für Handel und Wandel. Geld muss fließen, muss Wertschöpfungen in der Wirtschaft ermöglichen – soweit ist dem Dachs zuzustimmen.
Doch der Dachs sagt mehr. Er sagt, dass es gar nicht darauf ankommt, was geschaffen wird, die Hauptsache, die Wirtschaft prosperiert, ja, er suggeriert sogar, dass der Luxus der Reichen und Superreichen, ihre Pracht- und Prestigebauten eine Art Stimulans, Katalysator oder Motor für den allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung darstellen, der allen zugute kommt.
Dieser (neoliberalen) Philosophie steht die schlichte Tatsache gegenüber: Je mehr Menschen ihre Arbeitskraft bzw. -zeit einsetzen (müssen), um „Werte” zu schaffen (Luxusgüter und Prestigeobjekte aller Art), die sie selbst nicht nutzen bzw. kaufen können, desto weniger steht Arbeitskraft und -zeit zur Verfügung, um die Werte zu schaffen, die die Menschen, die sie schaffen, auch selbst nutzen können. Dass immer ein Teil der für Luxus und Prestige ausgegebenen Gelder in die Taschen der dafür Arbeitenden fließt, ändert an diesem Sachverhalt nichts. Fließt immer mehr Geld in Luxus und Prestige, wird der Fluss hin zum arbeitenden Menschen zum Rinnsal.