ultima ratio überarb.
17. Juni 2015 von Friedrich Müller-Reißmann
Friedrich Müller-Reißmann friedrich.mr@gmx.de
(zuerst 05 2014, überarbeitet 06 2015
Ultima ratio – Der Krieg als letztes rationales Mittel?
Dann und nur dann, wenn man alle anderen Mittel versucht habe, um sein Ziel zu erreichen, sei der Krieg als „letztes Mittel“, als „ultima ratio“ erlaubt, sagen die Theoretiker des „gerechten Krieges“.
Um welches Ziel, um welchen Zweck geht es eigentlich, für deren Erreichung Krieg erlaubt sein soll? Um die Eroberung irgendeiner Insel, auf die wir schon seit Urzeiten ein Anrecht und um die sich schon unsere Väter vergeblich bemüht haben? Nein, o nein, würde der Theoretiker des gerechten Krieges antworten, das wäre unsittlich und nicht zu verantworten. Ja, was aber, wenn uns andere eine Insel wegnehmen wollen, weil sie der Meinung sind, dass sie eigentlich ihnen zusteht? Ja, das muss mit allen Mitteln verhindert werden! Es gibt Zwecke, die sind so heilig, dass sie die Mittel heiligen: die Unversehrtheit unseres Territoriums, unsere Freiheit („lieber tot als Sklave“, „Lieber den Tod, als in der Knechtschaft leben“), unsere nationale Sicherheit…
Auf die Frage, ob Zwecke so „heilig“ sein können, dass mit ihnen das massenhafte Töten von Menschen zu rechtfertigen ist, gehe ich hier nicht ein (s. dazu meinen Text „Sirenenklänge“) . Jetzt versuche ich nur, die Rationalität zu begreifen, deren „letztes Mittel“ der Krieg ist.
Wenn der Krieg das „letzte“ rationale Mittel ist, mit dem man seine Ziele zu erreichen hofft, dann fragt sich doch, was die ersten, zweiten, dritten rationalen Mittel sind, mit denen wir normalerweise unsere Ziele erreichen, bevor wir zum letzten Mittel greifen müssen, und ob zwischen diesen und dem letzten Mittel ein innerer Zusammenhang besteht. Sind diese vielleicht in hohem Maße ursächlich dafür verantwortlich, dass Situationen eintreten, in denen man sich gezwungen sieht, nach dem Krieg als letztem Mittel zu greifen? Ganz simpel gefragt: Nützt es am Ende gar nichts, den Krieg nicht zu wollen, wenn man gleichzeitig mehr und immer mehr für sich selbst will ohne Rücksicht auf Verluste der anderen? Oder grundsätzlicher gefragt: Welche Art von Rationalität ist es denn, die uns beherrscht und der wir willig folgen auf dem Weg, an dessen Ende nur noch der Krieg als Ausweg erscheint?
Am elementarsten ist die herrschende Rationalität gekennzeichnet als Geist der Teilung, Separierung, Aufspaltung, der Diskriminierungen und Privilegien. In der römischen Formel „Divide et impera!“ findet er seinen sprichwörtlichen machtpolitischen Ausdruck. Zu ihm gehört die Zweiteilung der Menschen in Freunde und Feinde verbunden mit dem Glauben, dass der Schaden der einen der Nutzen der anderen sei und umgekehrt. Es ist ein Geist, der nicht weiß oder nicht wahrhaben will, dass alles Lebendige miteinander verbunden ist, Für ihn ist unvorstellbar, dass man tragfähige Lösungen am ehesten findet, wenn man seine eigenen Interessen offenlegt und die Interessen des anderen anerkennt und berücksichtigt, und er hat für eine solche Haltung nur Urteile übrig wie „dumm“, „naiv“, „weltfremd“ „feige“, „weibisch“, „unamerikanisch“, „verräterisch“ usw.
In scheinbar harmlosen alltäglichen Formen begegnet uns dieser Geist im Männlichkeits- und Dominanzgehabe, Streit- und Geltungssucht, in der Kompromissscheu, in der Angst, man würde sich etwas vergeben, wenn man dem anderen entgegenkommt, in all den Praktiken, den anderen auf Distanz und klein zu halten. In der Politik tritt er im verbreiteten „positionellen Politikstil“ zutage. Seine bevorzugten Werkzeuge sind Lüge und Täuschung des politischen Gegners und der Öffentlichkeit. Man handelt unbeirrt im eigenen Interesse und sucht seinen kurzfristigen Vorteil, wo immer es geht, kultiviert aber ein Bild von sich, dem langfristigen Allgemeinwohl zu dienen.
Es ist die berechnende Partialrationalität des eigenen und kurzfristigen Vorteils, die in ihrer Berechnung die Schäden und Kosten, die erst in weiterer Zukunft auftreten oder von anderen zu tragen sind, unterbewertet oder ganz unterschlägt. Sie begegnet uns in Reinkultur in der herrschenden Ökonomie, wo die (betriebswirtschaftliche) Orientierung am Eigennutz offen und bewusst als Erfolgsmethode propagiert und ideologisch überhöht wird. Welche breite „Spur des Todes“, welches menschliche Leid, welche kulturellen und ökologischen Verwüstungen diese egoistische Ökonomie in der Welt hinterlässt, kommt nur bei besonders spektakulären Unfällen wie dem Einsturz einer Textilfabrik in Bangladesch mit 1000 Toten stärker ins öffentliche Bewusstsein.
Es ist die Rationalität des Machbarkeitsglaubens und der blinden Zielorientierung, bei der man sich so sehr auf sein Ziel konzentriert, dass die Reflexion der Mittel, die man dazu einsetzt, ganz nebensächlich wird. Zu dieser Rationalität gehört die Überzeugung von der Neutralität der Mittel. Wie könnte man sich ausschließlich auf sein Ziel konzentrieren, wenn man die Eigendynamik der Mittel, gewissermaßen ihre Eigenmächtigkeit, auf die Realität einzuwirken, begriffen hätte? Schon einfachste Überlegungen sagen uns, dass oft mit dem eingesetzten Mittel das Ziel selber seinen Sinn verliert. Auch der Schuss mit der Kanone ist ein Mittel, mit dem der Spatz getötet wird. Aber um welchen Preis verheerender Nebenwirkungen wird das angestrebte Ziel erreicht! Man sagt, dass die Ziele die Mittel aufwerten. Es ist umgekehrt: die Mittel entwerten die Ziele. Man kann es auch so ausdrücken: Wer unmenschliche Mittel einsetzt, dem kann es nicht um menschliche Ziele gehen.
Es ist die Rationalität des wissenschaftlich-technischen Handelns, die in Bezug auf die Bearbeitung von materiellen, toten Objekten sinnvoll und erfolgreich ist, bei Anwendung auf die lebende Natur große Fragen aufwirft und nicht selten zu Misserfolgen und unerfreulichen überraschenden Nebenwirkungen führt, und die bei Übertragung auf die gesellschaftliche Welt von Subjekten zum Ungeist der Technokratie wird. Man glaubt, berauscht von der erstaunlichen Potenz der Technik mit der Herangehensweise des Ingenieurs (“lineares Denken“) alles und jedes in den Griff bekommen zu können, mit der Gentechnik die Bausteine des Lebens, mit Psychotechnik das Seelenleben des Menschen, mit der „Sozialtechnik“ die Gesellschaft als Ganzes zum Besseren konstruktiv verändern zu können.
Der Techniker versucht, die Nebenwirkungen der von ihm eingesetzten Mittel zu kontrollieren und weitgehend auszuschließen, dass sie die angestrebte Hauptwirkung konterkarieren. Das ist das Ideal. Schon bei sehr großen technischen Systemen und Projekten wie z.B. beim Bau gigantischer Stauseen, ist das nicht mehr gewährleistet. Der angestrebte Zweck ist hier gar nicht erreichbar, ohne dass von vorn herein und wissentlich schlimmste „Nebenwirkungen“ auf Tausende von Menschen in Kauf genommen werden. Von der Unberechenbarkeit der langfristigen Folgen ganz zu schweigen. Oft gibt man sich damit zufrieden, dass der gewünschte Effekt kurzfristig eintritt, und kümmert sich nicht um die langfristig oft ganz unerwarteten und verheerenden Folgewirkungen. Bei ökologischen Systemen und erst recht bei bewussten Wesen potenziert sich die Unberechenbarkeit. Glaubt man allen Ernstes, ganze Gesellschaften nach dem Modell des technischen Handelns konstruktiv verbessern und vor dem Absturz ins Verderben bewahren zu können? Das zu glauben, ist die logische Vorstufe zum Glauben, mit Waffen Frieden schaffen zu können. Oder anders gewendet: Krieg ist die absurde Aufgipflung der „Sozialtechnik“, der „ letzte Triumph“ der Technokratie.
Es ist die Rationalität der Bürokratie, die das eine minutiös und gewissenhaft zählt und verbucht, und vieles andere gewissenlos nicht zur Kenntnis nimmt oder verdrängt. Da wird jeder Pfennig genau abgerechnet und die Million leichtfertig ausgegeben. Regeln werden bis zum Exzess ernstgenommen, Dienstvorschriften bis hin zur Kleiderordnung starr und stur befolgt, selbst wenn „die Welt untergeht“. Die Etikette rangiert höher als Werte und Menschenleben. Auch in Religionen kann dieser Ungeist zur Herrschaft gelangen Religion verkommt zum Buchstabenglauben der „Pharisäer“ und „Schriftgelehrten“, der „Talibane“, „Evangelikalen“, und „Ultraorthodoxen“. Jesus, der einen völlig anderen Geist von Religion verkörperte, hielt den Pharisäern entgegen“ „Ihr Heuchler, ihr verzehntet Dill, Pfefferminze und Kümmel. und vergesst das Wichtigste am Gesetz: das Recht, die Barmherzigkeit und den Glauben“ (Math. 23.23).
Es ist die „Rationalität der absoluten Konkurrenz“, eine Mentalität, bei der man die Verlierer braucht, um sich als Gewinner fühlen zu können. Das müssen nicht unbedingt erklärte „Feinde“, sein, die man „besiegt“, es kann auch die große Masse der „Durchschnittlichen“ sein, aus der man sich „heraushebt“. Die Vorstellung, dass man gewinnen kann, ohne dass jemand verliert, ist dieser Mentalität fremd.
Es ist die Rationalität des Geldes, die das Geld zum Mittel des „Geldmachens“ pervertiert und den arbeitenden Menschen zum Verlierer macht.
Für diese Rationalität erscheint ein „Einkommen auf Vermögen“ in Form des Zinses als etwas Selbstverständliches, obwohl es von jeder Logik her eine Absurdität ist und verheerende Folgen zeitigt: es setzt einen Teufelskreis in Gang, der die Kluft in ARM und REICH automatisch vertieft. Nirgendwo zeigt sich der sozial spaltende Grundcharakter der herrschenden Rationalität so offenkundig wie bei der für sie typischen Form des Geldes.
Zu diesen „Rationalitäten“ gehört nicht zufällig das Schwarz-Weiß-Weltbild. Wir sind zur Durchsetzung unserer Ziele mit allen Mitteln geradezu verpflichtet, denn wir sind die „Guten“, die rassisch Überlegenen, die Träger des Fortschritts, die Demokraten, die ökonomisch Erfolgreichen, die „Besten der Besten“, …
Unser Kampf ist gerecht, er geht gegen die „Bösen“, die Minderwertigen, gegen Verräter, Ungläubige, Gottlose, Imperialisten, Kommunisten, Zionisten, Terrorristen, „Banditen und Faschisten“…
Der Ungeist der Partialrationalität, wie er uns als Ökonomismus, Zinsökonomie, Technokratie, Bürokratie oder Konkurrenzfixierung begegnet, macht die Welt immer friedloser, bis wir am Ende im Krieg unser Heil suchen.
Auf der politischen Ebene sind die konkreten Vorstufen der manifesten direkten Gewaltanwendung: der Sicherheitswahn, der zum Aufbau monströser Sicherheitsapparate führt, gepaart mit der Unwilligkeit oder Unfähigkeit, sich mal für einen Moment in die anderen hinein zu versetzen und deren Ängste, Sicherheitsbedürfnisse, Zwangslagen, Interessen usw. ernstzunehmen, ja auch nur wahrzunehmen, das Beharren auf Maximalforderungen, Versuche, den anderen zu übertölpeln und auszutricksen, Einschüchterung, paranoide Überwachung bis zum Exzess, Drohung mit Sanktionen, zunächst nichtmilitärischen, doch dann auch offen mit Gewalt usw.
Alle diese Strategien und Maßnahmen verschärfen die Probleme, die sie zu lösen vorgeben. Die monströsen Sicherheitsapparate z.B. erzeugen keine Sympathie bei denkenden Menschen, am wenigsten bei der heranwachsenden Generation und sie verschlingen Unmengen an Geld, das dann für soziale und kulturelle Programme fehlt.
Der Ungeist der Partialrationalität fällt nicht vom Himmel, ist auch nicht in unseren Genen angelegt, sondern ist ein Kulturprodukt, das unter großem Einsatz von Geld und man power erzeugt wird. Einflussreiche halbstaatliche und private Organisation, Geheimdienste, Heerscharen von Lobbyisten, alle möglichen Verbände und Kammern, Presse- und Werbeabteilungen usw. mit riesigen Etats arbeiten daran, dass diese beschränkte „lineare“ Rationalität, diese Art der kurzsichtigen Problemlösung vorherrschend bleibt. In Bezug auf die Sicherheitsfrage sind es heute z.B. Atlantikbrücke, Deutsche atlantische Gesellschaft, Münchener Sicherheitskonferenz, Bundesakademie für Sicherheitspolitik und andere Zusammenschüsse von Politik Wirtschaft und Medien, die heftig agieren, damit der Glaube erhalten bleibt, dass wir nur durch Überlegenheit sicher sind.
Diesen „rationalen“ Vorstufen des Krieges. stehen Alternativen gegenüber, die einer anderen Rationalität, der Rationalität der Kooperation, folgen. Diese geht davon aus, dass nur ein gemeinsamer Gewinn wirklich erstrebenswert ist. Sie fragt zuerst, wie man am besten so handeln kann, dass langfristig betrachtet für alle der Gewinn am größten ist. Sie weiß, dass der kurzfristig, schnell erzielte Erfolg auf Kosten des anderen langfristig nicht trägt, sich häufig sogar ins Gegenteil verkehrt. Der Besiegte sinnt auf Rache und Vergeltung und mobilisiert alle seine Kräfte, seinerseits zum Sieger über den zu werden, der heute noch als Sieger triumphiert. Der vom (sozialdarwinistischen) Geist der Konkurrenz beherrschte Mensch glaubt, dass genau dieses unablässige Hin und Her, dieser ewige Wettkampf um Einfluss und Macht die Welt „voranbringe“. Er glaubt das bedingungslos und fragt nicht nach den Opfern, denen diese „Fortschrittsmethode“ ihr Leben zerstört, und anderen irreversiblen sozialen und ökologischen Schäden.
Doch nicht nur aus dem bewusst angestrebten, politisch organisierten und ideologisch überhöhte Rachenehmen des Besiegten an den Siegern erwächst der neue Krieg, sondern sein Boden wird auch bereitet durch die eruptiven Ausbrüche von Gewalt gegen andere, oft völlig Unbeteiligte, mit denen sich die durch (militärische und andere) Niederlagen gedemütigten Menschen von dem bohrenden psychischen Schmerz der Demütigung entlasten (wollen). Zum Geist der Kooperation gehört ein tiefes Bewusstsein der verheerenden Folgewirkungen von Demütigungen durch Niederlagen, besonders deklassierenden, durch Unterwerfung, Unterdrückung, Ausbeutung, Versklavung usw.
Den Geist der Kooperation zeichnet ein positives Menschenbild aus in dem Sinne, dass die Menschen nicht primär als Wesen gesehen werden, die andere beherrschen wollen, sondern als Wesen , die nicht beherrscht werden wollen. Daraus folgt eine diametral andere Sicherheitspolitik („Politik der gemeinsamen Sicherheit“). Nicht durch Kleinhalten, Schädigen und Bedrohen des Anderen gewinnen wir Sicherheit, sondern dadurch, dass wir so handeln, dass der andere sich geachtet, ernstgenommen und unbedroht fühlt. Sicherheit gibt es nur als gemeinsame Sicherheit oder es gibt sie nicht. Anders ausgedrückt: wir haben nur die Wahl zwischen gemeinsamer Sicherheit oder gemeinsamer Unsicherheit.
Der Geist der Kooperation ist keineswegs ein Geist des Stillstands und des Sichbegnügens mit den Gegebenheiten, der nichts anderes kennt als eine gerechte Verteilung des Bestandes. Es ist vielmehr der Geist des lebendigen Suchens nach besseren Lösungen für alle Lebensbereiche: für den politischen Umgang mit der Meinungsverschiedenheit ( „Diskursiver Politikstil“), für die Wirtschaft („Post-Wachstums-Gesellschaft“, „Unabhängigkeit von Wachstum“), für die „Energieversorgung („Energiewende“, „Dezentralität“), für die Lebensmittelversorgung („Ökologischer Landbau“, „Urbane Landwirtschaft“), für ein anderes Geld („Regionalwährungen“, „zinsloses Geld“), für die Sicherheit („Wandel durch Annäherung“; „Vertrauensbildung durch Kooperation“, „Politik gemeinsamer Sicherheit“, „Frieden schaffen ohne Waffen“).
Zum Geist der Kooperation gehört durchaus die Konkurrenz, aber es ist eine Konkurrenz um die besten Ideen im unbegrenzten „Raum der Ideen“ und nicht um die größte Verfügungsgewalt über die begrenzten natürlichen Lebensgrundlagen.