Teufelskreise-Kurzfassung
9. November 2014 von Friedrich Müller-Reißmann
Friedrich Müller-Reißmann friedrich.mr@gmx.de
Teufelskreise der Reichtumskonzentration ( KURZFASSUNG 2014)
Angesichts von Finanzkrise, Staatsverschuldung, Sozialabbau usw. werden alle möglichen Varianten von „Reichensteuern“ gefordert: Erhöhung der Spitzensteuersätze, Wiedereinführung der Vermögenssteuer, einmalige Sonderabgaben auf besonders große Vermögen, Zwangsanleihen usw. Diese Vorstöße setzen strategisch an der falschen Stelle an und blenden eigentlich kritischen Punkt aus: die Herkunft des Reichtums.
Anstatt darüber nachzudenken, wie man den Reichen etwas von ihrem Reichtum zugunsten der Allgemeinheit nehmen kann, sollte man erst einmal die Mechanismen ausschalten, die automatisch den Reichtum der Reichen zulasten der Allgemeinheit ohne (eigene) Leistung endlos vermehren. Es bringt wenig, den Bestand des Reichtums zu attackieren, wenn man seinen Zufluss unangetastet lässt. Nicht „Reichensteuern“ sind notwendig, sondern eine Reform des Geld- und Finanzsystems.
Die Selbstvermehrung des Reichtums
Dass die Reichen immer reicher werden, sieht wie ein Naturgesetz aus oder wie „Teufelswerk“. Weder das unterschiedliche Leistungsvermögen der Menschen noch die unbestreitbare Ungerechtigkeit bei der Entlohnung der Leistungen können die bestehenden horrenden Reichtumsunterschiede erklären. Nein, Reichtum kommt von Reichtum. Mit Geld wird „Geld gemacht“: „Wer hat, dem wird gegeben“. Der soziale Riss durch die Gesellschaft wird wie von selbst breiter und breiter. Die Ursache dafür in der unersättlichen Habsucht der Reichen zu sehen und allzu demonstrativ den moralischen Zeigefinger zu erheben, verrät, dass man nicht an eine in absehbarer Zeit mögliche Problemlösung glaubt und nicht willens ist, dafür etwas zu tun. Hoffnung auf Abwendung einer gesellschaftlichen Katastrophe gibt es nur, wenn es gelingt, strukturelle Ursachen ausfindig zu machen. Strukturfehler lassen sich beheben.
Würde reich sein nur bedeuten, einen aufwändigen Lebensstil zu führen und zu genießen, wäre „alles halb so schlimm“. Auch dass Reichtum bedeutet, mehr zu haben, als man für das Laufende braucht, und über einen (nach Belieben einsetzbaren) Vorrat zu verfügen, ist an sich eine schöne Sache. Reichtum ist ein Sicherheitspolster gegenüber den Eventualitäten der Zukunft, gibt das Gefühl von Unangreifbarkeit und Überlegenheit. Auch das ist eine Form, Reichtum zu genießen. Problematisch und von vornherein verwerflich ist es auch nicht, wenn der Reiche seinen Reichtum nicht genießt, sondern nutzt, um ihn zu vermehren. Es zerstört jedoch unweigerlich das soziale Gleichgewicht, wenn er damit unbeirrt fortfährt, wie groß sein Reichtum auch schon geworden ist. Ohne den Reichen moralisch freizusprechen, muss man sich klarmachen, dass es nicht einfach Gier ist, die den Reichen dazu treibt, seinen Reichtum immer wieder zur Reichtumsvermehrung einzusetzen. Ab einer gewissen „kritischen Masse“ des Reichtums kann man nicht mehr „dagegen ankonsumieren“ – allen Edelkarossen, Luxusyachten und Privatflugzeugen zum Trotz – und hat praktisch keine andere Wahl, als ihn zu seiner Vermehrung zu nutzen – es sei denn, der Reiche ist ein „Übermensch“ und dazu bereit, große Teile seines Reichtums für gute Zwecke zu stiften, zu verschenken oder in „Rosengärten“ zu investieren. So ist ein Zusammenhang zu konstatieren, der jenseits von persönlischer Moral und Lebenseinstellung der Reichen zu existieren scheint: je mehr sich die Vermögen konzentrieren, desto mehr tummelt sich das Geld auf den (internationalen) Finanzmärkten. Der Finanzmarkt aber ist eine künstliche Welt, die nicht natürlichen Grenzen und Gesetzen des Realen unterworfen ist. Wenn hier Grenzen und Regulierungen nicht politisch organisiert werden, entstehen in dieser Sphäre Geldvermögen und Verschuldungen, die alle Vorstellungen übersteigen und die Bindekräfte des Gemeinwesens sprengen.
Während in der realen Wirtschaftswelt Einkommen zumeist eine Leistung (für die Gemeinschaft) voraussetzt, sei es durch unselbständige Arbeit für andere, sei es durch die selbständige unternehmerische Tätigkeit, dreht sich auf dem Finanzmarkt alles um das leistungslose, von der Realität „abgehobene“ Einkommen.
Der erste “Teufelskreis“ des Finanzmarktes: dIe Selbstvermehrung des Reichtums durch Kreditvergabe gegen Zins[1]
Der sicherste wirkungsmächtige Mechanismus der Selbstvermehrung des Reichtums hängt unmittelbar mit der Organisation unseres Geldwesens zusammen, zu dem wie selbstverständlich und vermeintlich alternativlos Zins und Zinseszinses gehören. Hier handelt es sich um einen eigentlich leicht zu behebenden „Geldfehler“.[2]
Der Zins ist nicht nur in seinen unmittelbaren Auswirkungen als Verursacher eines selbsttätig wachsenden Transfers von ARM nach REICH ein Verhängnis. In kognitiver Hinsicht ist er zudem der Erregerherd einer Verseuchung des menschlichen Geistes, einer Mentalität, die den leistungslosen Gewinn gleichsam für ein Naturrecht des Geldbesitzers ansieht. Wer immer über eine gewisse Menge an „überflüssigem“ Geld verfügt, hält es nicht nur für moralisch legitim, sondern geradezu für eine Pflicht, damit „Geld zu machen“, ohne dafür etwas für die Gemeinschaft zu leisten. Der Zins vergiftet gewissermaßen den Geist der sozialen Verantwortung. Er fördert eine Haltung, der es selbstverständlich erscheint, zu nehmen, ohne zu geben. In diesem Sinne ist der Zinsnehmer der „geistige Vater“ des Spekulanten.
Wird Reichtum in Geldform angehäuft, so bedeutet der Konzentrationsprozess nicht nur über kurz oder lang unerträglich werdende soziale Ungerechtigkeit, sondern zusätzlich ein wachsendes Geldumlaufproblem. Es gibt nämlich einen proportionalen Zusammenhang zwischen Reichtum und sog. Sparquote. Je reicher ein Haushalt ist, desto größer ist der Anteil des Einkommens, der nicht konsumiert, sondern zur Vermehrung des eigenen Reichtums eingesetzt werden kann. Damit wächst mit der Vermögenskonzentration auch die Sparquote des Landes insgesamt. Mit anderen Worten: mit zunehmender Konzentration des Geldes wächst das Problem der Geldhortung und Geldflussunterbrechung. Immer mehr Schulden müssen gemacht werden, damit das Geld in den Kreislauf zurückkommt, das die Reichen nicht ausgeben wollen oder können. Mit der Reichtumskonzentration in einem Land bzw. der Welt insgesamt wächst das Verschuldungsproblem im nationalen wie globalen Maßstab. Die verhängnisvolle Zunahme der Verschuldungen, auch gerade der Staatsschulden, wird zumeist nur unter dem Aspekt des unsoliden, leichtsinnigen Wirtschaftens der Schuldner gesehen und kritisiert, während der einer Zinswirtschaft inhärente Systemzwang zu wachsender Kreditaufnahme zwecks Rückführung des sich immer mehr „konzentrierenden“ Geldes in den Wirtschaftskreislauf unterbelichtet bleibt. Das unauflösbare Dilemma der Zinswirtschaft: das Schuldenmachen, das das Problem der Geldrückführung jeweils kurzfristig löst, verschärft es zugleich in seiner Dimension, weil dadurch die Reichtumskonzentration weiter befördert wird. Das Zinsgeldsystem zerstört aufgrund des wachsenden Geldumlaufproblems unaufhaltsam seine eigene Funktionsfähigkeit und damit die Lebensfähigkeit der arbeitsteiligen Gesellschaft. Der Staat, der das zu verhindern sucht , indem er sich selbst massiv verschuldet, der sich aber auch nicht grenzenlos verschulden kann, verschiebt den Systemkollaps nur etwas in die Zukunft, verschärft aber gleichzeitig die ganze Problematik, denn der Teufelskreis dreht weiter. Der Staat, der nicht an den Kern des Problems zu rühren wagt, wird zum tragischen Zwangsmitspieler im großen Transfer des Geldes dorthin, wo es schon im Übermaß vorhanden ist und nur unter Kosten, die die Allgemeinheit tragen muss, in den Kreislauf „zurückzulocken“ ist. Durch diese vergeblichen und letztlich kontraproduktiven Bemühungen schliddert der Staat in die „Staatsschuldenkrise“, die Wirtschaft und Gesellschaft sehr schnell in den Abgrund reißen kann.
Der zweite Teufelskreis des „Finanzmarktes“: die Selbstvermehrung des Reichtums durch die Spekulation
Die in den letzten Jahren explosionsartig angeschwollene Spekulation ist die Folge der bereits weit fortgeschrittenen Konzentration des Reichtums: Die Geldmassen in den Händen weniger finden in den „reifen“, hochentwickelten kaum noch wachstumsfähigen Volkswirtschaften nicht mehr genug Anlagemöglichkeiten mit der erwarteten hohen Rendite. Große Mengen des „überflüssigen“ Geldes drängen in die Spekulation in der Hoffnung, dort schneller mit Geld „Geld zu machen“ als durch Investitionen in die reale Wirtschaft bzw. durch Kreditvergabe. Wobei heute die Grenzlinie zwischen Kreditvergabe und Spekulation verschwimmt: wer an ein hochverschuldetes, kaum wettbewerbsfähiges Land gegen extrem hohe Zinsen Geld verleiht, ist selbst nach Einschätzung mancher systemkonformer Ökonomen kein normaler Kreditgeber, der einen gewissen Schutz vor Verlusten genießen sollte, sondern ein Spekulant, der einen solchen Schutz nicht verdient.
Oft werden die Wettspiele der Spekulanten als Nullsummenspiele angesehen, bei denen der eine Spekulant gewinnt, was der andere verliert. Das trifft zwar formal zu, ist aber inhaltlich nichtssagend bis irreführend, weil suggeriert wird, Spekulant sei gleich Spekulant. Anders als im Casino, wo alle Spieler gleich vor dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit sind (das Casino ist deshalb für die professionellen „Geldmacher“ uninteressant) herrscht an der Börse das „Gesetz des Stärkeren“. Hier hängen die Gewinnchancen mit realen Prozessen in Wirtschaft und Gesellschaft sowie mit psychischen und kognitiven Prozessen der Spielteilnehmer selbst zusammen. Auf alle diese Prozesse kann man Einfluss nehmen. Und es sind die Mächtigen, Großen und Reichen, die Zugang zu Insiderwissen haben, mit den Entscheidungsträgern in Wirtschaft und Politik Umgang pflegen, die besten Analysten und cleversten Berater bezahlen können. Die ganz Großen können Ratingagenturen unter Druck setzen, können dank Einsatzmasse, die sie in die Waagschale werfen, auf die Kurse direkt Einfluss nehmen und über die Informationskanäle, die sie mehr oder weniger beherrschen, die Stimmung der sog. „Börsianer“ in Richtung Pessimismus oder Optimismus lenken, Paniken auslösen, Illusionen verstärken usw. und damit indirekt den Kursverlauf beeinflussen. Die Wetten an den Börsen werden so zu manipulierten Wetten. Je reicher ein Spekulant ist, desto größer sind seine Möglichkeiten, Wetten zu manipulieren und dadurch reicher zu werden. Die Spekulation ist neben dem Kredit gegen Zins die andere große qualitativ eigenständige, nach eigenen Gesetzen funktionierende Weise des Transfers des Geldes hin zu den Reichen[3]. Da gibt es zunächst die Verluste jener, die sich freiwillig (wie auch immer fehlgeleitet) an der Spekulation beteiligen, indem sie (oft nach langem Zögern und dann zumeist zum falschen Zeitpunkt) Aktien oder andere handelbare Papiere kaufen, in der Hoffnung, auch einmal zu denen zu gehören, die den großen Reibach machen. Ohne Wissen, Erfahrung, starke Nerven, ausreichende Reserven, Einflussmöglichkeiten usw. bilden sie einfach nur die Masse der „kleinen“ Mitspieler, die für die professionellen „großen“ Spieler zum „Geldmachen“ erforderlich sind. Immerhin kann man hier sagen: „selber schuld!“. Spekulation ist jedoch mit einem zweiten großen Transfer verbunden, bei dem gänzlich an der Spekulation Unbeteiligte zur Kasse gebeten werden. Dafür sind vor allem zwei Sachverhalte verantwortlich: die Größenordnung der eingesetzten Gelder und die Systemrelevanz der Spekulanten: große Banken, die mit anderen Banken und anderen großen Geldinstitutionen, Versicherungen, Fondsgesellschaften hochgradig vernetzt sind, sind heute große Spekulanten. Wenn sie sich verspekulieren, kann es zu Kettenreaktionen kommen und das „geistige Kapital“ des Finanzsystems, das Vertrauen, so zusammenschmelzen, dass die Funktionsfähigkeit des ganzen Finanzsystems gefährdet ist. Angesichts der dann drohenden allgemeinen Wirtschaftkrise sind die Politiker bereit, mit Staatsmitteln, sprich: mit Steuergeldern große Verluste der Finanzindustrie zu sozialisieren. So wird auf indirekte und nachträgliche Weise die gesamte Bevölkerung zu den zahlenden Opfern der Spekulanten. Bei dieser unrühmlichen Mittäterschaft des Staates am Geldtransfer von ARM nach REICH wird oft vergessen, dass es naive oder korrupte Politik war, die im ideologischen Bannkreis des Neoliberalismus die Deregulierung für den Heilsweg zu wirtschaftlicher Größe angesehen und der Finanzwirtschaft das Tor zu immer risikoreicheren Transaktionen weit geöffnet hat.
Mit der Spekulation sind nicht nur die erwähnten Geldflüsse hin zu den Reichen verbunden. Die Spekulation verstärkt auch in einem umfassenden Sinn indirekt die Tendenz, das Geld weltweit dahin zu lenken, wo die Umweltstandards am niedrigsten sind und hart arbeitende Menschen am schlechtesten entlohnt werden und deshalb die höchsten Renditen erwartet werden können. Die Spekulation wird so zum essentiellen Teil des globalen Systems der Naturverwüstung und Ausbeutung fremder Arbeit zum Zwecke der Bereicherung von nichtarbeitenden Reichen.
Mehr als die soziale und ökologische Katastrophe, die damit langfristig heraufbeschworen wird, beunruhigt, dass die Spekulation, wie sie heute im großen Stil und mit rasanter Geschwindigkeit betrieben wird, ein ständiges „Spiel mit dem Feuer“ ist, ein Feuer, das sehr schnell den Flächenbrand der großen Wirtschaftskrise entzünden kann, wie wir aus der Geschichte der „großen Depression“ von 1929 wissen.
Die Suche nach Auswegen aus den Teufelskreisen des Finanzmarktes
Wenn ich im Folgenden nach Lösungswegen suche, die im Rahmen nationaler Politik, vor allem durch steuerliche Impulse möglich sind, so stehen alle Überlegungen unter dem Vorbehalt: Solange die Politik Kapitalverkehrskontrollen aussetzt und dem Kapital die Freiheit einräumt, die ganze Welt zu seiner Spielwiese zu machen, und den „freien“ Weltmarkt als „Realität der Realitäten“ ansieht[4], ist die Wirksamkeit nationaler (ja, selbst europäischer) Maßnahmen fragwürdig. Dennoch macht die Suche Sinn. Das zu tun, was heute im nationalen bzw. europäischen Rahmen möglich ist, schließt ja nicht aus, sich insgesamt vom Neoliberalismus und der Doktrin von der bedingungslosen Vorteilhaftigkeit grenzenlosen Austauschs zu befreien und an einer zukünftigen neuen Weltordnung zu arbeiten, in der das Subsidiaritätsprinzip gilt: „So viel (regionale) Autonomie und Selbstversorgung wie möglich, so viel (überregionale, internationale) Vernetzung und Austauschbeziehungen wie nötig“.
Mir geht es hier nicht um einen konkreten Ausweg aus akuten Krisen. Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, wie der Zusammenbruch des Euro oder eine baldige schwere Wirtschaftskrise abzuwenden sind. Meine Intention ist bescheidener und unbescheidener zugleich: Es geht mir um langfristig notwendige Strukturveränderungen, um die Macht der Teufelskreise der Reichtumskonzentration zu brechen, weil wir sonst zwangsläufig immer wieder in Krisen und letzten Endes in die unumkehrbare soziale und ökologische Verwüstung hineinzulaufen.
Was den Zins und den durch ihn bedingten “Teufelskreis“ betrifft: wir sind ihm keinesfalls auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, denn zum Zins als Geldumlaufsicherer gibt es eine Alternative: Liquidität muss einen Preis bekommen, was ethisch und logisch völlig in Ordnung und marktsystemkonform wäre. Auf dem Markt bekommt man nichts für umsonst. Warum soll ausgerechnet die Liquidität eine Ausnahme machen? Wer Geld im Tresor oder auf dem Girokonto zwecks sofortiger Verfügbarkeit für Geschäfte oder für Spekulationszwecke zu seinem eigenen Vorteil „hält“, also bei sich „stehen“ lässt, muss dafür eine Art „Standgeld“ bezahlen, in Form eines prozentualen Wertverlusts z.B. von 6% pro Jahr auf das zurückgehaltene Geld. (Für die technische Realisierung existieren verschiedene Modelle, denen ich hier nicht nachgehe). Dieser Wertverlust fungiert als „Umlaufsicherung“. Denn man kann diesem Wertverlust nur entgehen, wenn man sein Geld, das man für eine gewisse Zeit nicht selbst verwenden will (für Konsum oder für Investitionen), für diese Zeit anderen als Kredit zur Verfügung stellt und damit in Guthaben verwandelt. Auch in Guthabenform wird Reichtum bequem und sicher „über die Zeit“ gebracht. Dieser große Vorteil sollte eigentlich genügen. Der entscheidende Punkt: Dem Besitzer von (für ihn) überflüssigem Geld ist die Basis für die „Zinserpressung“ entzogen. Er kann nun nicht mehr auf seinem Reichtum in Geldform sitzen bleiben und warten, bis die Zinsen auf die gewünschte Höhe steigen, denn das Warten verursacht durch das „Standgeld“ Kosten. Der Gesellschaft steht nun reichlich Liquidität zur Verfügung, da sie nicht mehr gehortet wird. Der Zins sinkt nach marktwirtschaftlicher Logik gegen Null.
Im neuen Geldwesen wird das Geld also nicht durch ein „Lösegeld“ in den Kreislauf „gelockt“ sondern durch ein „Standgeld“ in den Kreislauf „getrieben“.
Während der Zins dem Kreditgeber zugute kommt, fließen die Einnahmen aus der alternativen Umlaufsicherung in den Staatshaushalt, was sachgemäß ist, denn es ist die Gesellschaft als ganze, repräsentiert durch den Staat, die die Liquidität in Form des Geldes schafft und erhält. Und während durch die Zinseinnahmen die Reichen immer reicher werden, machen die Einnahmen aus der alternativen Umlaufsicherung den Staat keineswegs immer reicher! Diese hat den verhängnisvollen Effekt der positiven Rückkopplung nicht.
Die Spekulation gehört zu den Phänomenen ohne gesellschaftlichen Nutzen wie Verbrechen und Laster, die einfach nur eingedämmt werden müssen. Eine Maßnahme, die dazu beitragen kann, die m. E. das Problem aber allein nicht löst, ist in jüngster Zeit zunehmend in den Blick der Politik geraten: die „Finanztransaktionssteuer“. Man fragt sich in der Tat: Warum wird bislang das Geschäft mit sog. FInanzprodukten nicht besteuert? Dabei sind diese im Unterschied zu allen anderen, irgendwie mehr oder weniger nützlichen materiellen oder informationellen Produkten für nichts und niemanden von Nutzen außer für die, die andere damit im Interesse eigener leistungsloser Gewinne zu überlisten trachten (warum sonst begnügt man sich nicht mit klar definierten Krediten und Aktien, sondern erfindet immer neue hochkomplex „strukturierte“, undurchschaubare „Finanzprodukte“ mit ihren akrobatischen Namen, all die CDOs, TAGs, SLABs, WAPS, CDSs?). Leider wird die „Finanztransaktionssteuer“ bislang zumeist unter dem verengten Aspekt diskutiert, die spekulierenden Akteure der Finanzindustrie wenigstens partiell an den Kosten zu beteiligen, die sie verursachen und nicht allein den allgemeinen Steuerzahler zum Zahlmeister zu machen. So geht es also letztlich um eine zusätzliche Einnahmequelle für den Staat, eine legitime, mehr als berechtigte, überfällige, aber nichtsdestotrotz sehr verkürzte Betrachtungsweise und Zielsetzung. An den Gedanken, diesen ganzen aufgeblasenen unnützen und brandgefährlichen Spekulationswahnsinn durch eine entsprechend hohe Steuer ernsthaft zu treffen, wagt sich kein politisch „Verantwortlicher“ heran. Selbst das Verbot von offenkundig rein spekulativen Finanztransaktionen wie Leerverkäufen, zu dem man sich unter dem Eindruck der Finanzkrise 2008 durchgerungen hatte, wurde wieder aufgehoben. Die Macht der Finanzindustrie ist immens, und demokratisch legitimierte Politiker ducken sich heute vor „den Märkten“ wie einst in archaischen Zeiten Despoten vor „den Göttern“.
Die in Bezug auf Zins und Spekulation ins in Auge zu fassenden Maßnahmen ( „Liquiditätssteuer“, „Finanztransaktionssteuer“, Verbote gewisser Finanztransaktionen) bedürfen keiner tieferen Eingriffe in bzw. Veränderungen der marktwirtschaftlichen Ordnung. Es müssen weder Freiheitsrechte von Bürgern, Konsumenten, Produzenten noch die Eigentumsordnung angetastet werden. Angetastet und überwunden werden muss „nur“ die „Mentalität des leistungslosen Gewinns“, die im tiefsten dem Geist der Marktwirtschaft und den Werten, auf denen sie basiert, zuwider ist. Die Überwindung dieser Teufelskreise ist nicht nur verträglich mit der Marktwirtschaft, sondern bedeutete eine Stärkung und Renaissance der marktwirtschaftlichen Ordnung aus der „kapitalistischen Verdunklung“. Diese Maßnahmen sind zudem ohne jeden Personenbezug und konzeptionell einfach; sie wären durch relativ geringe technisch-organisatorische Eingriffe zu realisieren. Hier ist allein die oben angesprochene Mentalität des leistungslosen Geldmachens das eigentliche Hindernis. Die Kräfte, die sich mit ihrer ganzen Macht dagegen stemmen, sind auf der menschlich-defizitären Ebene angesiedelt und heißen rücksichtslose Profitgier, blinder Gruppenegoismus, kurzfristiges unsystemares Denken, Streben nach Prestige und Status usw.
Teufelskreise der Selbstvermehrung des Reichtums in der realen Wirtschaftswelt
Mit einer Reform des Geld- und Finanzsystems und der Ausschaltung des zins- und des spekulationsbedingten Teufelskreises der leistungslosen Selbstvermehrung des Reichtums ist das Problem der wachsenden sozialen Kluft zwischen ARM und REICH noch nicht aus der Welt. Prozesse positiver Rückkopplung zwischen Einkommen und Vermögen gibt es auch in der Realwirtschaft. Eine Schlüsselrolle spielt das Phänomen der Investition. Reiche haben mehr zu ihrer Verfügung, als sie für das Laufende brauchen; sie haben einen Vorrat, Vermögen genannt, den sie zur Verbesserung ihrer zukünftigen Situation investieren können. Das müssen nicht unbedingt ökonomische Investitionen sein; man kann auch in einen Rosengarten investieren, um sich in der Zukunft an seinem Duft und Anblick zu erfreuen. Nichtökonomische Investitionen sind, anders als im feudalistischen, im kapitalistischen System eher selten. Üblicherweise geht es um Investitionen, die zu größerem Einkommen in der Zukunft führen, wodurch das Vermögen wächst, was größere Investitionen ermöglicht usw.usw.
Die ökonomische Investition ist der elementarste Mechanismus, den der Reiche zur Vermehrung seines Reichtums nutzen kann. (In der Zinswirtschaft wird er sie nutzen, wenn sie ihm mindestens eine Rendite in der Höhe des durch Kreditvergabe erzielbaren Zinses bringt). Die Tatsache, dass es in der realen Welt immer wieder auch Fehlinvestitionen gibt, durch die der Reiche von seinem Reichtum einbüßt, ändert nichts an der Tendenz der Reichtumsvermehrung mittels Investitionen, durch die eine nach möglichst kurzer Zeit möglichst reichlich sprudelnde „Einkommensquelle“, geschaffen, erweitert, rationalisiert, gesichert, auf dem Markt günstig positioniert, beworben wird usw.
Das konträre Gegenstück zum Vermögen, das die Investition ermöglicht, ist die andauernde Unmöglichkeit, sich ein und wenn auch nur bescheidenes Vermögen zu bilden. „Wir verdienen so wenig, dass wir nicht sparen können“, – so oder ähnlich hört man es stereotyp aus dem Mund von Armen in Reportagen über irgendein Land der Dritten Welt. Damit bleiben die Armen der Armut verhaftet.
Die Selbstvermehrung des Reichtums durch immer erneute Investition des Reichtums in „Einkommensquellen“ funktioniert als solche im Prinzip unabhängig von der Größe des Wirtschaftsraums. Unter den Bedingungen der Globalisierung und des „freien“ Kapitalverkehrs wird sich Reichtum, hat er erst einmal eine gewisse Größe erreicht, in der ganzen Welt die renditeträchtigsten Orte für seine Investitionen auswählen. Damit gewinnt der Prozess der Reichtumskonzentration erst so richtig an Dynamik. Läuft sie ungebremst weiter und weiter, wird die Gesellschaft von ihr sozial und ökologisch in den Abgrund gerissen.
Was diese Potenz des Reichtums, sich mittels ökonomischer Investitionen fortdauernd zu vermehren, betrifft, so ist es schwierig, eine konzeptionell einleuchtende, widerspruchsfreie und marktgemäße Lösungsstrategie zu finden. Denn zur Investition gibt es keine Alternative, es sei denn eine Gesellschaft verzichtet ganz und gar auf Entfaltung und Fortschritt. Um hier den Teufelskreis der Reichtumskonzentration aufzubrechen, werden tiefer greifende Veränderungen unseres Systems wohl unvermeidlich sein. Es bedarf auf lange Sicht eines politischen Instruments, das das Privateigentum an „Einkommensquellen“ nicht unterbindet, jedoch ab einer gewissen Grenze, die politisch zu bestimmen ist, erschwert. In einer Marktwirtschaft erscheint eine progressive Besteuerung des privaten Erwerbs an „Einkommensquellen“ (kurz und verkürzt „Investitionsteuer“ genannt) als die geeignete Lösung.
Der Marxismus hatte die „Abschaffung“ des Privateigentums an Produktionsmittel propagiert. Das „sozialistische“ Gesellschaftsexperiment, das auf diese Idee basierte, ist in der Realität nicht zufällig kläglich gescheitert. Denn mit dieser Abschaffung beraubte sich die Gesellschaft einer der entscheidenden Quellen von EFFIZIENZ und ADAPTIVITÄT: Vielfalt der Ideen, unternehmerische Findigkeit, Eigeninitiative, Selbstverantwortung, Experimentierfreude, schnelle, spontane Handlungsmöglichkeit, Zwang zur Fehlerkorrektur usw. Stattdessen dominierten Bürokratismus, ängstliches Warten auf Anweisungen von „oben“, „social loafing“ , Verantwortungsdiffusion.
Die Idee, den Privatbesitz an „Einkommensquellen“ pro Person zu begrenzen, stößt vor dem Hintergrund dieser negativen historischen Erfahrung verständlicherweise auf Skepsis. Dabei hätte eine solche „Begrenzung“ eine für Wirtschaft und Gesellschaft überaus wertvolle Kehrseite: die breitere Streuung des Eigentums an Produktionsmitteln bzw. „Einkommensquellen“ allgemein, und das bedeutet mehr Chancengleichheit, größere Vielfalt der Strukturen, der Strategien, der Lösungsideen für die Zukunft und eine breitere Nutzung der in der Gesellschaft existierenden Kreativität, Findigkeit, Leistungs- und Verantwortungsbereitschaft. „Begrenzung “ ist also nicht eine Art Vorstufe zur „Abschaffung“, im Gegenteil: „Begrenzung“ entfaltet das positive Potential der “Privatinitiative“ maximal.
Die Idee einer „Begrenzung“ der privaten Verfügung über “Einkommensquellen“, ohne die nicht zu verhindern ist, dass sich der Reichtum in immer weniger Händen konzentriert, ist also kompatibel mit der marktwirtschaftlichen Ordnung. Ein anderer Punkt ist die konkrete Umsetzung dieser Idee durch Einführung einer progressiven „Investitionssteuer“. Hier sind beträchtliche methodische Schwierigkeiten zu überwinden, um sicherzustellen, dass eine solche Steuer die Reichtumskonzentration wirksam begrenzt und zugleich relativ unbürokratisch und gerecht ist und potentielle Investoren nicht generell abschreckt.[5]
Die Steuer, die das bewirken soll, indem sie den Erwerb von „Einkommensquellen“ über eine politisch zu bestimmende Grenze hinaus ökonomisch unattraktiv macht, kommt logischerweise nicht ohne Personenbezug aus. Allein hier gibt es eine Registratur (eine Art weiterentwickeltes Gewerbeamt), die für jeden festhält, welche Menge (in Geld ausgedrückt) er bereits davon erworben und als Eigentum hat. Je näher er mit einem weiteren Kauf z. B. einer Produktionsstätte, Immobilie oder Windkraftanlage oder davon abgeleiteter Rendite bringender Papiere wie Aktien der vorgesehenen Obergrenze kommt, desto höher wird die Steuer, mit der dieser Kauf belastet wird. Der durch diese Steuer entstehende neue Kontrollaufwand wäre von vornherein geringer als bei der heutigen progressiven Besteuerung der Einkommen, denn die potentielle Zahl der Personen, die überhaupt „Einkommensquellen“ erwerben, ist klein und solche Käufe sind eher selten. Und die Grenze, an der eine genaue und aufwändige Kontrolle ansteht, wird nur von einer winzigen Minderheit erreicht.
Zur Idee, die Anhäufung von „Einkommensquellen“ in einer privaten Hand (durch progressive Besteuerung) zu erschweren, gehört als „Gegenstück“, das Gewinnmachen (durch Wegfall der Besteuerung des Gewinns) zu erleichtern. So ergäbe sich hier ein zum heute existierenden konträres Prinzip. Während heute der Gewinn besteuert wird und die Investition absetzbar ist, bliebe in dem zukünftigen System der Gewinn unversteuert und die Investition würde (gestaffelt) besteuert. Damit würden die „besten Wirte“ gefördert, die es verstehen, aus ihren begrenzten “Einkommensquellen“ am meisten herauszuholen, und nicht die Reichen, die ihren Besitz an „Einkommensquellen“ immer mehr ausdehnen. Nicht nur für unsere Gesellschaft, sondern auch für die sog. Entwicklungsländer wäre es gut, wenn die Entwicklung von einer möglichst breiten Entfaltung der vorhandenen Kräfte und Fähigkeiten und nicht von der sich überschlagenden Investitionstätigkeit einer schnell reich werdenden Minderheit getragen würde.
Die Umkehrung der Besteuerungsphilosophie bedeutet einen tiefen Eingriff in das System mit weitreichenden Auswirkungen auf die gesellschaftliche Entwicklung: Das gegenwärtige Steuersystem bremst nicht nur nicht die Investition derer, die schon viel an „Einkommensquellen“ besitzen, sondern fördert sie durch die Absetzbarkeit. Der Effekt entspricht der herrschenden Zielsetzung: es geht um ein möglichst großes Wirtschaftswachstum.
Die Frage ist nun, ob die Besteuerung der Erweiterungsinvestition gestaffelt nach der Größe des Gesamtbesitzes an „Einkommensquellen“, mit dem Ziel, in Wirtschaft und Gesellschaft die Polarität abzubauen und die Vielfalt zu erhöhen, damit bezahlt werden muss, dass das Wachstum der Wirtschaft in der Summe gebremst wird. Gegenfrage: Ist das nicht genau das, was wir erreichen müssen? Brauchen wir nicht eine insgesamt verstetigte, weniger hektische Entwicklung? Ist nicht die Anpassung der Geschwindigkeit von gesellschaftlichen Veränderungen, die heute durch die Dynamik einer zügellosen Wirtschaft heillos angetrieben immer größer wird, an die Zeitparameter des sozialen Lernens, des Aufbaus funktionsfähiger gesellschaftlicher Institutionen, der natürlichen Kreisläufe und der ökologischen Regeneration heute das Gebot der Stunde? Ansonsten bleiben für die kurzfristig in immer schnellerer Folge entstehenden „Werte“ der ökonomischen „Wertschöpfung“ viel wertvollere, möglicherweise niemals ersetzbare ökologische, soziale und kulturelle Werte auf der Rennstrecke.
Wir haben uns hier nicht nur mit einem Instrumentarium befasst, das sich gegen die Konzentration des Reichtums in wenigen großen Händen richtet, die das Sozialgefüge der Gesellschaft zu sprengen droht. Die Lösung des sozialen Problems ist die unabdingbare Voraussetzung, um den Wachstumszwang zu brechen, der unsere natürlichen Lebensgrundlagen bedroht. Nicht mehr getrieben zu sein, bedeutet keineswegs Stillstand. Und deshalb brauchen wir ergänzend zu den hier anvisierten Maßnahmen ein Instrumentarium zur Neuausrichtung von Fortschritt und Entwicklung. Wie ein Steuersystem aussehen könnte, das die Investitionen in eine ökologischere Richtung lenkt (und zudem ganz ohne Personenbezug auskommt), ist in „Steuersystemwechsel – Plädoyer für eine ganz andere Art und Weise, wie der Staat zu seinen Einnahmen kommt“ (www.mueller-reissmann.de Kategorie „Gegenentwürfe) skizziert.
[1] Vgl. zum Zinsproblem vor allem die grundlegenden Arbeiten von Helmut Creutz: „Das Geldsyndrom“ (1993; 2012 in aktualisierter Neuausgabe vorliegend) und „Die 29 Fehler rund ums Geld“.
[2] Vgl. „Über den Geldfehler und seine Korrektur.“ www.mueller-reissmann.de Kategorie „Geldreform“.
[3] Vgl. „Die organisierte Spekulation“ www.mueller-reissmann.de Kategorie „Kritische Systembetrachtungen“.
[4] Ein Agrarexperte, der sich viele Jahre in Afrika beim Aufbau einer nachhaltigen Landwirtschaft engagierte, nannte den Weltmarkt die „große dämonische Realität, die auf allem lastet“.
[5] Mehr dazu in der Langfassung dieses Textes www.mueller-reissmann.de