Verschwörungstheorien
23. Dezember 2012 von Friedrich Müller-Reißmann
Friedrich Müller-ReIßmann
Verschwörungen und Verschwörungstheorien (November 2012)
Verstellung und Verblendung: Die Selbstimmunisierung der Verschwörungstheorie
Wer wollte bezweifeln, dass es Verschwörungen gibt, geheime Pläne und Absprachen, um durch Machenschaften im Verborgenen bestimmte (politische) Ziele zu erreichen, die man in offener Auseinandersetzung kaum erreichen würde? Das typischste Bespiel ist die Verschwörung zum Sturz einer Regierung. Es gehört zum Wesensmerkmal einer Verschwörung, dass die Verschwörer alles tun werden, um den Eindruck zu erwecken bzw. zu erhalten, dass es gar keine Verschwörung gäbe. Und hier hat das Verwirrspiel seine Wurzel, hier liegt gewissermaßen für die Verschwörungstheorie das „gefundene Fressen”, von dem sie sich nährt. Man kann alle möglichen Verdächtigungen aufbringen und Behauptungen über die Existenz einer Verschwörung aufstellen, ohne sich davon irritieren zu lassen, dass die Beweise dafür fehlen. Das Fehlen der Beweise zeigt doch nur, dass die Verschwörer sie beseitigt haben, und dass sie das so perfekt konnten und kein Journalist, keine Behörde, kein Spitzel etwas wirklich Handfestes gefunden hat, zeigt, wie weit der Arm der Verschwörer (schon) reicht und wie gefährlich die Verschwörung ist. Wir haben hier, die „sich selbst beweisende Behauptung“, die typische Denkfigur der Verschwörungstheorie, die sich gegenüber Kritik und Zweifel an ihr auf die denkbar wirkungsvollste Weise immunisiert: indem sie die Existenz von Kritik und Zweifel in eine Bestätigung der Theorie ummünzt. Beweist sich hier doch, wie effektiv die Verschwörer ihre Aktivitäten tarnen, ihre wahren Absichten verbergen und sich verstellen. Im Begriff der „Verstellung” kulminieren die moralische Minderwertigkeit und die beängstigenden Fähigkeiten der Verschwörer. Und selbst wenn kluge und informierte Leute diese Gefahr in Abrede stellen, umso schlimmer: es zeigt; wie heimtückisch und raffiniert die Verschwörer agieren, dass es ihnen gelingt, selbst die Klügsten einzulullen und zu täuschen. So kommt es zu dem paradoxen Sachverhalt: je mehr die Verschwörung bezweifelt wird, desto fester ist der Verschwörungstheoretiker von ihrer Existenz überzeugt.
In dieser unterstellten Perfektion der Verschwörer, ohne die die Verschwörungstheorie nicht auskommt, zeigt sich schon ihre Realitätsferne. Denn menschliches Handeln ist niemals perfekt. In allen Projekten unterlaufen Fehler, kommt es zu Pannen, nicht selten geht es stümperhaft und chaotisch zu. Wenn es tatsächlich eine so große Verschwörung gäbe, würde das allen Geheimhaltungsanstrengungen zum Trotz an mehr als einer Stelle durchsickern. Die Unterstellung der Perfektion bedeutet die Unterstellung allmachtartiger Fähigkeiten (s.u.).
Verschwörungstheorien sind gegenüber allen Argumenten völlig resistent und dabei paradoxerweise zugleich ganz offen – den zustimmenden sowieso und den Gegenargumenten erst recht. Das funktioniert, indem der Verschwörungstheoretiker nach Belieben von der Metaebene, auf der über die Theorie diskutiert wird, in die Objektebene seiner Theorie springt und seinen kritischen Gesprächspartner zum Objekt seiner Theorie macht. Stimmt B der Verschwörungstheorie von A zu, so wird er von A auf der Metaebene als eigenständig denkende Person akzeptiert. Lehnt er sie ab, wird er in die Objektebene versetzt. A hat in seiner Verschwörungstheorie die Erklärung dafür parat, warum B widerspricht: er ist ein von den Verschwörern „Verblendeter”, also ein lebender Beweis für die Richtigkeit der Theorie.
Heilsversprechen und Unheilsdrohung der Verschwörungstheorie
Indem der Verschwörungstheoretiker aber eine so gefährliche und so perfekt getarnte Verschwörung durchschaut und sich nicht verblenden lässt, verdient er die höchste Wertschätzung und Bewunderung. Von daher ist es nur ein kleiner Schritt dahin, dass der Verschwörungstheoretiker sich als charismatischer und erleuchteter „Heilsbringer” stilisiert. Er weiß nicht nur, was zu tun ist, um die konkrete Gefahr abzuwenden und die Verschwörung jetzt scheitern zu lassen, er kennt den Weg zur endgültigen Erlösung von den Übeln überhaupt. Ich nenne das den „Heilsüberhang” der typischen Verschwörungstheorie. Wer die bösen Machenschaften von Verschwörern durchschauen kann und gegen ihre Verblendungskunst gefeit ist, der muss im Besitz der rettenden Wahrheit sein. Man findet diese Muster sehr schön in der (griechisch-christlichen) Gnosis, in der man die „Mutter aller Verschwörungstheorien” sehen kann. Der erleuchtete Gnostiker kennt (aufgrund von „Offenbarung”, die ihm zuteil wurde, oder woher auch immer), das „wahre Wesen” von Welt und Mensch. Er weiß, dass die Seelen der Menschen Lichtfunken sind, die einer himmlischen Lichtgestalt entspringen, die der böse Erschaffer der irdischen Welt, der Demiurg, geraubt hat. Er hat sie zerschlagen und als einzelne Lichtsplitter in die Körper der Menschen gebannt. Die Seelen der Menschen sehnen sich nun nach ihrer himmlischen Heimat zurück und drohen der Gewalt des Demiurgen, der in Wahrheit der Teufel ist, zu entfliehen. Um das zu verhindern, hat der Teufel alle möglichen Ablenkungen erfunden: die schönen Künste, überhaupt alles Schöne, die irdischen Vergnügen, die fleischlichen wie die geistigen, auch die Philosophie, die Rhetorik, Logik usw. Alles Blendwerk zur Täuschung der Menschen, damit sie ihre himmlische Heimat vergessen. Der die irdischen Freuden genießende Mensch, dem der Sinn wenig auf himmlische steht, der Philosoph, dem die Sache mit der himmlischen Heimat nicht einleuchten will, sind für den Gnostiker der lebende Beweis für das Wirken des Teufels.
Die seltsame Vorstellung, dass Kunst Blendwerk des Teufels oder anderer „Verführer” sei, findet sich bis in unser Jahrhundert hinein immer wieder in allen möglichen Varianten bei Sekten, religiösen Fundamentalisten, bigotten Moralisten, Frömmlern, Pietisten und anderen religiösen und nichtreligiösen „Heilsbringern”, Reformern und „Kulturrevolutionären”. Sie führte zu Verboten und Verpönung von Kunst, Verfolgung von Künstlern, zu „Bilderstürmerei” und barbarischer Zerstörung einmaliger Kunstwerke und Kulturgüter.
Der Gnostiker geht aber noch einen Schritt weiter. Wer sich seiner Wahrheit versperrt, womöglich mit Argumenten widerspricht, ist nicht nur ein armer verblendeter Mensch, sondern ein moralisch minderwertiger Helfershelfer der Verblendung, ein Agent des Teufels. Diese moralische Diffamierung des Andersdenkenden, die, sobald die fundamentalistischen „Erleuchteten” Macht erlangen, zu Verfolgungskampagnen bis zur physischen Vernichtung führen kann, findet sich mehr oder weniger ausgeprägt in allen Verschwörungstheorien. Auf besonders abscheuliche Weise hat sich das latente Potential einer Verschwörungstheorie zu barbarischer Verfolgung im Hexenwahn zu Beginn der Neuzeit manifestiert (s.u.). Im Zeitalter der Säkularisierung verschwindet der Teufel von den offiziellen Bühnen. An seine Stelle tritt der „Klassenfeind”, der „Zionismus”, der „Weltkapitalismus”, „US-Imperialismus” usw. Die alten Verteuflungsmechanismen und menschenverachtenden Vorgehensweisen bleiben. Gerade dieser Tage (Dezember 2012) erfährt das eine traurige Aktualität: Auf dem Bildschirm kann die ganze Welt sehen, mit welcher Brutalität die „erleuchteten” Moslembrüder in Ägypten mit Andersdenkenden umgehen, wenn sie ihnen in die Hände fallen.
Abgrundtiefe Bosheit und allmachtartige Fähigkeiten
Für eine Verschwörungstheorie sind zwei Unterstellungen charakteristisch, an denen sie leicht und eindeutig als solche zu erkennen ist: die Verschwörer sind abgrundtief böse (verfolgen böse Ziele bzw. fügen der Allgemeinheit schlimmen Schaden zu) und sie besitzen dazu allmachtähnliche Fähigkeiten. Erst dadurch gewinnt die Verschwörung die von den „Verschwörungstheoretikern” beschworene beängstigende Dimension. Zu den Fähigkeiten, über die die Bösen verfügen, gehört vor allem, dass sie ihre Machenschaften vor den Augen selbst kritischer Menschen tarnen und verstecken können. Dazu müssen die Verschwörer nicht nur in der Lage sein, sich selbst zu verstellen, sondern auch die Dinge insgesamt so zu arrangieren (was vor allem einen entsprechenden Einfluss auf Wissenschaft, Medien, Politik, Finanzwelt usw. voraussetzt), dass die Zeitgenossen unbekümmert ihr normales Mainstream-Weltbild pflegen, in dem eine derartige Verschwörung undenkbar ist. So können die Verschwörer unbemerkt von der Mehrheit ihr schmutziges Geschäft betreiben, bis die Zeit reif ist, um aus der Deckung heraustreten und die Macht brutal und offen ausüben zu können.
Man findet diese Züge deutlich bei den bizarren Theorien, die in den Anschlägen des 11.September das Werk der US-Regierung bzw. US-amerikanischer Geheimdienste sehen wollen. Wie „abgrundtief böse” müssen diese amerikanischen Kräfte sein, wenn sie so eiskalt und direkt Tausende ihrer Mitbürger in den Tod schicken! Und über welche „allmachtartige Fähigkeiten” müssen sie verfügen, wenn sie der gesamten kritischen Presse und Weltöffentlichkeit nachhaltig einreden können, es wären islamistische Fanatiker gewesen, wenn diese es gar nicht gewesen sind!
Ein (leider nicht ganz) historisches Beispiel: Teufelsglaube und Hexenwahn
Der Teufelsglaube, wie er im Rahmen der christlichen Religion auf besonders makabre Weise in der Zeit des Hexenwahns im 16. und 17. Jahrhundert (nicht im Mittelalter!) die Menschen beherrscht hat, besitzt die Züge einer Verschwörungstheorie „par excellence. Der Teufel, Repräsentant schlechthin des Bösen, setzt alles daran, die Menschen zu verführen und seinem finsteren Reich einzuverleiben. Er besitzt allmachtähnliche Macht, seine Pläne zu verwirklichen, sich selber zu tarnen und die Menschen mit seinen Verlockungen zu verblenden. „Groß Macht und viel List sein grausam Rüstung ist”, dichtet Martin Luther in dem bekannten Kirchenlied „Ein feste Burg ist unser Gott”.
Im Hexenwahn nimmt eine „Verschwörungstheorie” so entsetzliche Züge an, dass man selber geneigt ist, sie mit dem Wort „teuflisch” zu kennzeichnen. Der Teufel bedient sich für seine finsteren Machenschaften besonderer Werkzeuge: der „Hexen” und „Zauberer”. Das sind von ihm bereits ganz und gar verführte und verdorbene Menschen, die nicht nur die Frommen schädigen, sondern den Teufel dabei unterstützen, weitere Fromme in den Bannkreis des Bösen zu ziehen. Zu diesem Zweck verstellen sie sich, sodass sie nicht von den frommen Christen zu unterscheiden sind, Diese Hexen und Zauberer gilt es mit allen (!) Mitteln zu enttarnen, zu entlarven, um zu verhindern, dass die Verschwörung des Teufels gegen das Gute zum Erfolg führt. Das Infame dieser Theorie war, dass jeder, der an diese Theorie nicht glauben wollte und die Existenz von Hexen und Zauberern bezweifelte, selbst sofort in Verdacht geriet, nicht nur vom Teufel verblendet und verführt, sondern ein Helfershelfer des Verführers zu sein (die „moralische Diffamierung” des Andersdenkenden” ; s.o. zur Gnosis), woraus sich für die „frommen Verteidiger des Guten” nicht nur die Erlaubnis, sondern die unbedingte Pflicht ergab, ihn zu „entlarven”. Ich glaube, nirgends sonst und zu keiner Zeit hat eine „Verschwörungstheorie” eine so grauenvolle Dimension angenommen wie im „christlichen” Hexenwahn. Allenfalls ist noch die Vorgehensweise Stalins vergleichbar, der zu den schlimmsten Zeiten seiner „Säuberungen” jedem Rayon die Zahl der „Volksfeinde” vorgab, die innerhalb einer bestimmten Zeit „entlarvt”, eingesperrt oder liquidiert werden mussten. Allerdings denke ich, dass der Wahnsinn der stalinistischen „Säuberungen” mehr von nackter, ganz irdischer Angst gespeist wurde als von wahnhaften „Glaubenswelten”. Oder irre ich mich? Waren tatsächlich Menschen des 20. Jahrhunderts so leicht davon zu überzeugen, dass ihre Freunde, Verwandte, Sohn oder Tochter, Mutter oder Vater, bewährte und geschätzte Persönlichkeiten, hochdekorierte „rote Helden”, legendäre Veteranen des Bürgerkrieges, ja, selbst die Kampfgefährten des „großen Lenins” sich plötzlich in „Volksfeinde” verwandelt haben, wie es die Leute in voraufklärererischen Zeiten hinnahmen, dass ihre Nachbarn in die Fänge des Teufels geraten waren?
Über die geistige Verirrung des Hexenwahns braucht man wohl kein Wort zu verlieren. Doch auch schon allein der Glaube an den Teufel und sein gezieltes böses Wirken in der Welt als der große „Verführer” ist das wohl übelste „religiöse „Konstrukt” überhaupt. Die Idee des Teufels, dieses Schreckgebildes aus Bosheit und Macht ist das Urbild, die geistige Keimzelle aller Verschwörungstheorien. Sie findet sich auch in der Gnosis (s.o.). Die Gestalt des Teufels erschreckt und fasziniert zugleich. Es scheint gewissen Leuten seit jeher Vergnügen zu bereiten, anders lebende und fremdartige Menschen, ja, sogar missliebige Nachbarn zu verdächtigen, mit dem Teufel im Bunde zu stehen.
Keiner kann die erdrückende Menge des Bösen: der Gemeinheit, der Erbarmungslosigkeit, der Lüge in der Welt leugnen. Aber wie brauchen ihm (erstens) keinen absolut bösen Charakter zuzubilligen, den es zu entlarven gilt, sondern wir dürfen, ohne es zu rechtfertigen, die Frage nach seiner „Entstehungsgeschichte”, nach seinen sozialen und biografischen Gründen und Ursachen stellen. Und (zweitens) müssen wir dem Bösen nicht allmachtähnliche Fähigkeiten zubilligen, die wir nur mit noch mehr Gewalt zerschlagen zu können meinen, sondern es steht uns immer die „menschliche Möglichkeit” offen, in der Liebe und der Wahrheit die eigentliche Kraft der Wirklichkeit zu sehen und immer wieder den Weg des Dialogs zu gehen. (Man sollte einmal unter diesem Blickwinkel die amerikanischen Aktion- und Gewaltthriller analysieren. Sie arbeiten fast alle nach demselben Muster: es gibt die „Bösen”, die aus dem Nichts auftauchen, irgendwie „vom Himmel fallen” (nicht selten in bizarren Raumschiffen über die Erde herfallen) und die letztendlich nur durch noch größere und raffiniertere Gewaltanwendung von den „Guten” besiegt werden können).
Die militante Islamkritik – eine typische Verschwörungstheorie
In der militanten Islamkritik, wie sie einem heute in einem obskuren Schrifttum, im Internet, in manchen persönlichen Gesprächen, zum Glück nicht in den christlichen Kirchen des westlichen Europas begegnet, werden dem Islam Welteroberungspläne unterstellt. Der Islam als Religion sei eine Verschwörung, deren Ziel es ist, alle Menschen dem Islam zu unterwerfen. Diese Unterstellung geht weit über die Vorstellung hinaus, dass die Moslems in ihrem Herzen den tiefen Wunsch hegen, dass alle Menschen Moslems werden mögen. Falls es denn tatsächlich so ist, würde das keine Angst machen, denn ein solcher Wunsch hat angesichts des längst veralteten geistigen Potentials des Islams wenig Aussicht auf Verwirklichung. Bei einer „Verschwörungstheorie” geht es aber darum, Angst zu schüren und, indem eine Verschwörung dunkler Kräfte beschworen wird, höchste Wachsamkeit, Widerstand und in letzter Konsequenz: Kriegsbereitschaft gegen die heraufziehende Gefahr zu mobilisieren.
Gemäß der Logik der „Verschwörungstheorie verfügen die moslemischen Verschwörer über solche Fähigkeiten, dass sie ihre Gefährlichkeit vor den Augen selbst kritischer Menschen tarnen und verstecken können. In Fernsehdiskussionen oder am „Tag der offenen Moschee geben die sich als moderate, friedlich und demokratisch gesinnte Mitbürger, doch verborgen vor den Augen der Öffentlichkeit werden radikale Zellen gegründet, Netzwerke gesponnen, wird „von langer Hand” geplant usw. Die Moslems erscheinen als verschlagene Finsterlinge, die auf ihre Stunde warten. Wenn die Zeit dafür reif ist, werden sie aus ihrer Deckung heraustreten, die Scharia einführen und aller Welt die Freiheit nehmen, so zu leben, wie es jeweils den eigenen Werten entspricht. Wir finden hier die ganz typische Denkfigur einer Verschwörungstheorie, die sich gegenüber Kritik und Zweifel an der Theorie auf die denkbar wirkungsvollste Weise immunisiert: indem sie die Existenz von Kritik und Zweifel in eine Bestätigung der Theorie ummünzt. Beweist sich hier doch, wie effektiv die Verschwörer ihre wahren Absichten tarnen. Wenn ich also hier die Vorstellung einer islamischen Verschwörung gegen die christliche Welt für abwegig halte und eine heraufziehende Gefahr verneine, trage ich in den Augen der „Verschwörungstheoretiker” zur Vergrößerung dieser Gefahr bei.
Damit nicht genug, dass die Verschwörer über die Fähigkeit verfügen, Menschen zu verblenden, so dass diese die Gefahr nicht sehen, es spielt ihnen auch noch die schlichte Naivität und Dummheit vieler Zeitgenossen und besonders die „Blauäugigkeit” der „Gutmenschen” in die Hände. Diese ersparen den Verschwörern gewissermaßen den Verblendungsaufwand, da sie von sich aus selbst die schwärzesten Wolken, die heraufziehen, nicht anders als himmelblau sehen können. Und drittens wird die Gefahrensituation schließlich noch von denen zusätzlich verschärft, die eingeschüchtert von der drohenden Machtübernahme den Verschwörern als ihren zu erwartenden neuen Herren im „vorlaufenden Gehorsam” den Boden bereiten. Diese werden von der militanten Islamkritik als „Dhimmis” (das arabische Wort für die nichtmoslemischen „Schutzbefohlenen” in islamischen Gesellschaften) verhöhnt und beschimpft.
Auf diese Weise hat man, wenn man sich in Sachen Islam und Islamkritik ein unabhängiges differenziertes und abwägendes Urteil bewahren möchte, die Wahl, als verblendetes Opfer der Verschwörer bedauert, als naiver „Gutmensch” belächelt oder als verräterischer und feiger „Dhimmi” verachtet und bedroht zu werden. Ich fürchte, ich könnte mit meiner Einstellung in alle drei Kategorien geraten.
Dabei ist es mehr als offensichtlich, dass sich der Islam im Laufe seiner Geschichte weder als abgrundtief böse erwiesen noch durch allmachtartige Fähigkeiten ausgezeichnet hat. Es gibt unendliche Beispiele für gütige und friedfertige Moslems, und es gibt sicher ebenfalls nicht wenige Beispiele insbesondere in der jüngeren Zeit für seine insgesamt eher begrenzten Fähigkeiten (zur Weltgestaltung.
Zum Schluss werfe ich noch einen Blick auf einen Gegenstand, der abstrakt und formal erscheint: das Geld. Der Gedanke, in geldtheoretischen Diskussionen könnten Verschwörungstheorien eine Rolle spielen, drängt sich nicht gerade auf.
Die Theorie der Geldschöpfung durch die Geschäftsbanken
Es gibt eine Reihe von Geldtheoretikern, die den Geschäftsbanken unterstellen, Kredite „aus dem Nichts schöpfen” zu können, d.h. Kredite zu vergeben, ohne sich um entsprechende Einlagen von Sparern zu kümmern. Den Zinseinnahmen der Banken für die vergebenen Kredite würden durch keinerlei Zinskosten für Einlagen geschmälert. Da Kredite getilgt werden müssen, bekämen also die Banken ein Geld real zurück, was sie niemals gehabt haben. Eine Art Lizenz zum Gelddrucken mit der schönen Zugabe, dass diese Lizenz, anders als es sonst üblich ist, nichts kostet, sondern noch durch Zinseinnahmen vergoldet wird.
Diese Theorie unterstellt den Banken Handlungen zu ihrer eigenen Bereicherung mit dem „Nebeneffekt”, dass ein unkontrollierbares Inflationspotential aufgebaut wird. Die Banken nehmen also für ihre Selbstbereicherung eine äußerst problematische, schwerwiegende Schädigung der Allgemeinheit in Kauf. Banken handeln kriminell, sind „abgrundtief böse”.
Wenn das so ist, dann stellt sich sofort die Frage, warum der Staat, der Vertreter des Allgemeinwohls nichts gegen eine solche Bankpraxis unternimmt. Die Antwort kann nur lauten: weil die Banken den Staat auf versteckte Weise in der Hand haben! Aus der Unterstellung des kriminellen Geldschöpfung folgt logisch das zweite typische Grundmerkmal einer Verschwörungstheorie: die Banken verfügen über allmachtartige Fähigkeiten.
Üblicherweise lässt das Wort „Verschwörung” an ein heraufziehendes Unheil denken, zu dessen Verhinderung Gegenkräfte mobilisiert werden sollen. Die Geldschöpfungstheorie hingegen richtet den Blick auf ein Unheil, das bereits voll im Gang ist, und auf Verschwörer, die längst große Macht an sich gerissen haben. Ihnen gilt es endlich das Handwerk zu legen. Die Idee der sog. Monetative von Bernd Senf, Josef Huber u.a., die an die Idee des „100%- Geldes” des amerikanischen Ökonomen Irving Fisher anknüpft, wird als Mittel dazu propagiert. Der Staat soll die Versorgung der Volkswirtschaft mit Geld ganz in seine Hand nehmen. Dabei wird suggeriert, dass man nicht nur die Selbstbereicherung der Banken damit ausschaltet, sondern zu einem sauberen, von Missbrauchsmöglichkeiten gereinigten Geldwesen gelangt und die Gesellschaft von den ganzen Übeln des Finanzsystems befreit, die heute die Welt in den Abgrund zu reißen droht. Inflation und Deflation werden der Vergangenheit angehören, Der „Heilsüberhang” (s.o.) ist unverkennbar.
Seit Jahren, ja seit Jahrzehnten wird nun immer wieder die Behauptung von der „Geldschöpfung” durch die Banken aufgewärmt und diejenigen Geldtheoretiker, die ihre Skepsis nicht aufgeben wollen und daran festhalten, dass es bei der Kerntätigkeit der Banken, der Kreditvergabe, mit rechten Dingen zugeht, als in einem „überholten Paradigma gefangen” hingestellt (vgl. „Wie ich vom Bann der Kreditschöpfungstheorie loskam” www.mueller-reissman.de unter Kategorie „Geldreform”).
Kürzlich meinte ein Bekannter: „ Mir ist diese endlose Streiterei der Theoretiker darüber, ob die Banken Kredite ohne entsprechende Einlagen vergeben können oder nicht, völlig unverständlich. Warum fragt man nicht einfach mal die Praktiker, wie es nun ist?” „Ha”, würde der Geldschöpfungstheoretiker sagen, „gerätst du mit der Frage an einen eingeweihten Banker, so wird der dir gerade die Wahrheit sagen! Da kannst du auch gleich den Teufel fragen, ob es Hexen und Zauberer gibt oder nicht. Und gerätst du an einen uneingeweihten, dann beweist das nur, dass die Verschwörer über so raffinierte Vertuschungsmethoden verfügen, dass sie ihre Machenschaften sogar vor ihren eigenen Leuten verbergen können”. Und schon ist man mitten im Gedankendschungel einer ganz typischen Verschwörungstheorie.
Das Machtlosigkeit der Kritiker oder: die Versuchung, die Verschwörungstheorie selbst zur Verschwörung zu erklären
Eine Verschwörungstheorie ist eine Art kognitive Haut, die es ihren Vertretern ermöglicht, sich dem Zugriff der Kritiker immer wieder zu entwinden wie ein glitschiger Fisch. Wer einmal eine längere Diskussion mit einem Verschwörungstheoretiker, z.B. in Form eines email-Austausches, geführt hat, wird dieses Bild vom „glitschigen Fisch” für ziemlich passend halten. Die Versuchung angesichts dieses Misserfolgs des kognitiven Angriffs zu einer schwereren Waffe zu greifen, der moralischen Herabsetzung, ist groß. Wir haben das bestimmt alle schon als ganz gewöhnlichen Reflex erlebt: Wenn jemand unseren Argumenten partout nicht folgt, wie schnell sagen wir dann, dass er uns nicht verstehen will. Und wie schnell unterstellen wir diesem Willen ein unlauteres Motiv. Wer das, was wir für die (doch so offenkundige) Wahrheit halten, nicht anerkennt, muss irgendwie böswillig sein! Selbst in Alltagssituation ist dieser Reflex alles andere als harmlos, er ist oft eine Quelle für Unfrieden und Zerwürfnisse. In politischen Zusammenhängen bedeutet er Konflikteskalation bis hin zum Krieg. Dass „die Anderen”, die mit der anderen Konfession, die mit der anderen Lebensweise, dem anderen politischen System usw. als „die Bösen” angesehen wurden, durchzieht in ihren Folgen die Geschichte als blutige Spur.
Die Überschreitung der roten Linie – vom Kritiker zum Erleuchteten
Eine Theorie zu kritisieren, sie als Verschwörungstheorie zu charakterisieren, sie mit Fakten zu konfrontieren, auf Widersprüche in den Argumenten und Thesen hinzuweisen usw., ist legitime geistige Auseinandersetzung. Wenn der Kritiker aber vorgibt zu wissen, was den Kritisierten motiviert, seine Thesen zu vertreten, und welche Ziele er damit verfolgt, dann ist eine „rote Linie” überschritten.
Nehmen wir z.B. den Hexenwahn. Ihn in seiner absurden Selbstbestätigung als Verschwörungstheorie zu durchschauen, ist heute leicht. Das Thema ist abgehakt und stellt keine kognitive Herausforderung mehr dar. Ganz leicht landet man heute jedoch selbst bei einer Verschwörungstheorie, wenn man allzu genau weiß, was hinter dem Hexenwahn steckt, und ihn z.B. zu einem „von langer Hand” geplanten und gesteuerten Projekt „der Kirche” macht, die an die Besitztümer der verurteilten Hexen kommen will, oder als groß angelegtes Programm zur Vernichtung des im Volk vorhandenen Verhütungswissen hinstellt (so Heimsohn und Steiger in ihrem durchaus brillanten Buch „Die weisen Frauen”). Aus einem irrationalen, absurd dummen Wahn ist so ein rationales, zielgerichtetes, geplantes Handeln geworden. Während es keines großen intellektuellen Aufwandes bedarf, um einen Wahn als solchen zu erkennen, erfordert es umfangreichste und sorgfältigste wissenschaftliche Detailarbeit, um den Plan hinter dem Handeln nachzuweisen. Motive und Ziele anderer sind sehr viel schwieriger offenzulegen als irriges Denken nachzuweisen und seine Folgen aufzuzeigen, zumal wenn die Ereignisse weit in der Vergangenheit liegen. Eindeutig zu einer Verschwörungstheorie wird es, wenn man die Schwierigkeit des Nachweises damit begründet, dass die Archive, in denen man das Gesuchte nicht findet, von den verbrecherischen Akteuren präpariert und manipuliert worden seien (was Heimsohn und Steiger in dem erwähnten Buch nicht getan haben).
Auch die Charakterisierung der militanten Islamkritik als Verschwörungstheorie ist legitim. Wird aber diesen Islamfeinden unterstellt, sie würden mit ihrem dummen Hass gezielt von einer viel größeren Gefahr, von größeren Untaten ablenken wollen, nämlich z.B. von der Herrschaft des „großen Geldes” über die Völker, dann ist der Kritiker selbst in einem bedenklichen Fahrwasser.
Natürlich ist auf der anderen Seite der islamische Fundamentalismus, am offenkundigsten ausgeprägt im Salafismus, eine ganz typische Verschwörungstheorie, die ganz deutlich mit der Gnosis (s.o.) verwandt ist: die Salafisten gebärden sich unverkennbar als die wahrhaft (durch den Koran) „Erleuchteten”, die den anderen die Wahrheit bringen, und sie drohen denen, die sich nicht dieser Wahrheit öffnen, unverhohlen mit der Hölle (und gehen, wenn sie die Macht dazu haben, mit äußerster Brutalität gegen sie vor, wie wir es gegenwärtig in Ägypten erleben) . Damit ist aber keineswegs schon bewiesen, dass der Salafismus eine (wohlorganisierte) Verschwörung zur Erlangung der Herrschaft ist. Für eine solche Behauptung bedarf es ganz anderer fundierter Beweise. (Allem Anschein nach schicken sich die ägyptischen Moslembrüder zurzeit an, diese Beweise zu erbringen.).
Zuletzt noch ein Blick auf die Geldschöpfungstheorie:
Ich meine, es ist kaum zu bestreiten, dass sie die charakteristischen Züge einer Verschwörungstheorie hat. Und ich meine auch behaupten zu dürfen, dass sie objektiv die Aufmerksamkeit in eine unfruchtbare Richtung lenkt und von wichtigeren Fragen ablenkt.
Wenn ich jedoch z.B. behaupte, die Geldschöpfungstheoretiker wollen von den wahren Ursachen der sozialen Misere, der Überschuldungen, der Finanzkrise usw. ablenken, dann stellt sich sofort die Frage, in wessen Interesse tun sie das tun. Der Vertreter der Geldschöpfungstheorie steht nun im Verdacht dunkler Machenschaften. Das begründbare intellektuelle Urteil „Verschwörungstheorie” hat sich in eine unbegründbare moralische Diffamierung „Verschwörung” verwandelt. Wer kann begründet behaupten, was ein anderer will und was seine Ziele sind? Dazu gehören mehr Beweise als das eigene Misstrauen gegenüber Leuten, die hartnäckig anders denken.
Unter der Hand hat sich der um Aufklärung bemühte Kritiker selbst in einen „Erleuchteten” verwandelt, Er ist in eine Falle geraten, und die kritisierten Verschwörungstheoretiker können den Spieß umdrehen.