Teufelskreise Reichtumskonzentration – LANGFASSUNG
27. September 2012 von Friedrich Müller-Reißmann
Zwei Probleme – ein Thema
Seit 40 Jahren[1] wird in der kritischen Öffentlichkeit thematisiert, dass fortlaufendes Wachstum des materiellen Lebensstandards zum Systemkollaps führt. Unsere natürlichen Lebensgrundlagen sind nicht unbegrenzt belastbar. Dennoch ist kein wirkliches Umdenken erfolgt. Die Gesellschaften, auch unsere, scheinen unter einem Wachstumszwang zu stehen. Warum? Liegt es einfach daran, dass „die Menschen” nun mal immer mehr haben wollen?
Mindestens ebenso lange weiß man von der verfestigten und wachsenden sozialen Polarität in der Welt – Reichtum, Überfluss und Verschwendung hier, Armut, Mangel und Hunger dort -, ohne dass man ernsthaft die verursachenden Mechanismen in den gesellschaftlichen Organisationsstrukturen antastet. Auch hier bleibt es meist beim Verweis auf „den Menschen” und seine moralischen Defizite: Gier und Habsucht, Machtstreben, kurzfristiges Gewinndenken, Gleichgültigkeit, Trägheit, Fatalismus usw.
Beide Probleme, die Abhängigkeit von Wirtschaftswachstum und die wachsende „soziale Kluft”, sind im Grunde ein Thema. Man wird sich nicht aus dem Wachstumszwang befreien können, solange man politisch zulässt, dass eine Minderheit immer mehr Reichtum an sich zieht. Um den dadurch drohenden sozialen Kollaps zu vermeiden, sieht sich die Politik dann gezwungen, solange wie es irgendwie geht, nach Wachstum zu streben und die Zuspitzung der ökologischen Probleme in Kauf zu nehmen. In einer Welt krasser sozialer Spannungen geraten fast zwangsläufig ökologische Belange in den Hintergrund. Und verdient die soziale Frage denn nicht den Vorrang vor der ökologischen? Aufs Ganze gesehen sind doch die natürlichen Systeme viel stabiler als gesellschaftliche, und durch Kriege und Bürgerkriege, Flucht, Vertreibung, sozial bedingte Hungerkatastrophen usw. kommen sehr viel schneller Tod und Leid über die Menschen als durch die Vernichtung ihrer natürlichen Lebensgrundlagen. Doch deshalb zu meinen, die Wachstumsstrategie sei eine angemessene Antwort auf das soziale Problem, ist ein fataler Irrtum. Ohne grundlegende Strukturreformen, ohne gerechtere Verteilung des Sozialprodukts vergrößert die Wachstumsstrategie nur die soziale Polarität und bringt über kurz oder lang alles in Gefahr, was an Wohlstand und sozialem Fortschritt gewonnen wurde. Und im Blick auf das ökologische Problem droht der Zusammenbruch unserer natürlichen Lebensgrundlage. Doch diesen Zusammenbruch sollte man sich nicht wie einen harten Aufprall an eine Mauer vorstellen, durch den das Leben für alle, arm oder reich, schlagartig endet. Er wirft vielmehr lange seine Schatten voraus: Versorgungsengpässe, Klimaverschiebungen, extreme Wetterphänomene, Epidemien von Krankheiten und Schädlingen, Vekarstung landwirtschaftlicher Flächen, Unbewohnbarkeit ganzer Regionen usw., und diese Schatten treffen die Menschen höchst ungleich. Arme Länder werden härter getroffen als reiche, und auch innerhalb der Länder sind es die Armen, die mehr und länger leiden müssen; Reiche haben vielfach Möglichkeiten, den Schadereignissen auszuweichen, und können die Schäden schneller kompensieren. Mit anderen Worten: Wenn wir gegen die Umwelt „sündigen”, vergrößern wir auch das Potential der sozialen Spannungen in der Welt. Längst sind Konflikte und kriegerische Auseinandersetzungen um Wasser, Weideplätze, Fischgründe in vielen Ländern an der Tagesordnung. Und auch geostrategisch spielt der Zugang zu energetischen und anderen knapper werdenden Ressourcen, Wasser, landwirtschaftlich attraktiven Flächen usw. eine zunehmend wichtige Rolle. Es ist ein Kurzschluss, zu meinen, man könne wegen der unbestreitbaren Dringlichkeit der sozial verursachten Probleme die Lösung der ökologischen hintanstellen. schon heute schlägt die Natur, die die massiven Folgen der Reichtumserzeugung nicht mehr einfach „wegstecken” kann, blind zurück: dIejenigen, die am meisten an Raubbau, Abholzung, Überfischung, Monokulturen, Schadstoffproduktion usw. verdienen, sind nicht dieselben, die von den Umweltschäden, von extremen Wetterereignissen, Stürmen, Dürre, Überschwemmung; Artensterben, Giften in Nahrungsmitteln, krankmachender Luftverschmutzung usw. am stärksten getroffen werden. Das verschärft die Kluft zwischen ARM und REICH zusätzlich.
Durch Wachstum die wachsende Polarisierung zwischen ARM und REICH „sozial abfedern” oder auch nur Zeit bis zur unumkehrbaren „sozialen Verwüstung” gewinnen zu wollen, ist eine illusionäre und gefährliche Strategie. Wenn man das soziale Problem wirklich angehen will, muss man gezielt bei den Ursachen der wachsenden Polarisierung ansetzen.
Das Verhängnis der Reichtumskonzentration
Es gefährdet die Legitimität und Funktionsfähigkeit unserer freiheitlich-demokratischen Ordnung fundamental, wenn eine Minderheit immer mehr Reichtum „an sich zieht”, während die gesellschaftsstabilisierende Mittelschicht schwindet und die Zahl der Menschen wächst, die zu Armut und mangelnder Teilhabe an den von der Gemeinschaft erwirtschafteten Gütern verurteilt sind. Doch schlimmer als diese skandalöse Ungerechtigkeit ist, dass konzentrierter Reichtum Entmachtung der demokratischen Institutionen bedeutet. Die Politik starrt gegenwärtig wie gebannt, ratlos und überfordert auf das Treiben reicher „Anleger” und Spekulanten, deren unberechenbare Machenschaften ehrfurchtsvoll als „die Finanzmärkte” oder noch numinöser als „die Märkte” bezeichnet werden. Die RIchtung der Entwicklung wird innergesellschaftlich und global von der immer kleiner und immer reicher werdenden Minderheit und ihrer kurzsichtigen Orientierung an noch mehr Reichtum hier und jetzt bestimmt, während die überwältigende Mehrheit weltweit , aber auch in unserem „so demokratischen Land” hinnehmen muss, wie sich ihr Leben gegen ihre Interessen, Bedürfnisse und Hoffnungen verändert und Gefahren für die Zukunft heraufbeschworen werden. De jure Demokratie, de facto Plutokratie. Wo es am dringendsten gebraucht wird: zur Befriedigung von Grundbedürfnissen und zur Linderung akuter Not, zur Abwehr drohender Schäden und Leiden durch Krisen, weltpolitische Konflikte, Kriege, Umweltkatastrophen, vor allem die sich abzeichnende Klimaveränderung, zur Friedensstiftung und Entwicklung tragfähiger Zukunftskonzepte, da überall fehlt Geld, oft schmerzlich , während es im Übermaß dorthin fließt, wo aus welchen Gründen auch immer (oder Abgründen von Verblendung, Ausbeutung, Raubbau, Naturverwüstung, Menschenrechtsverletzung, Kinderarbeit, Waffenproduktion) die größten Renditen zu erwarten sind und die „Teufelskreise” der Reichtumskonzentration am schnellsten rotieren. Das zerstört mit tödlicher Zwangsläufigkeit den sozialen Frieden und legt die Quellen der Leistungsfähigkeit der Gesellschaften, auf der aller Wohlstand basiert, trocken. Wozu sich noch anstrengen, wenn sich die Mühen der Arbeit nicht lohnen und man trotz harter Maloche ärmer wird, während andere die „Früchte fremden Fleißes” genießen und ohne jede eigene Arbeit und Leistung immer reicher werden? Die sich vollziehende Vermögenskonzentration ist der eigentliche und tiefere Grund für die fatale Abhängigkeit unseres gesellschaftlichen Systems vom Wachstum.
Die Frage nach den Ursachen der Reichtumskonzentration
Dass die Reichen immer reicher werden, sieht wie ein unveränderliches Naturgesetz aus oder wie „Teufelswerk”. Weder das unterschiedliche Leistungsvermögen der Menschen noch die unbestreitbare Ungerechtigkeit bei der Entlohnung der Leistungen können die bestehenden horrenden Reichtumsunterschiede erklären. Maßlos überzogene Managerbezüge, großzügigste Boni, unverschämte Honorare, Traumgagen usw. erklären die Entstehung von „Vorsprüngen” beim Reichsein, nicht aber, warum die Vorsprünge automatisch wachsen und wachsen. Nein, Reichtum kommt von Reichtum. Mit Geld wird „Geld gemacht”: „Wer hat, dem wird gegeben” . Der Volksmund drückt es drastischer aus: „Der Teufel macht immer auf denselben Haufen”. Auf ähnlicher Linie liegt der sarkastische Aphorismus von Peter Bamm: „Was der liebe Gott vom Geld hält, kann man an den Leuten sehen, denen er es gibt”. Moralische Verachtung des Reichen und Entrüstung über die ungerechte Verteilung mögen eine Genugtuung sein für den, der leer ausgegangen ist, doch sie sind unbrauchbar zur Erklärung und Problemlösung. Wer die Ursache des Problems in den Schwächen des Menschen, z.B. seiner blinden unersättlichen Gier sucht und allzu demonstrativ den moralischen Zeigefinger erhebt, verrät, dass er resigniert hat und nicht ernsthaft bereit ist, an der Verbesserung der Lage mitzuarbeiten, denn die Problemlösung drängt und Menschen werden nicht so schnell grundlegend zu ändern sein. Hoffnung auf Problemlösung gibt es nur, wenn es gelingt, strukturelle Ursachen ausfindig zu machen. Strukturfehler lassen sich beheben. Wenn – und da ist der Mensch und seine Moral in letzter Konsequenz dann doch der springende Punkt – der politische Wille dazu vorhanden ist.
Würde reich sein nur bedeuten, einen aufwändigen Lebensstil zu führen und zu genießen, wäre „alles halb so schlimm”. Auch dass Reichtum bedeutet, mehr zu haben, als man für das Laufende braucht, und über einen (nach Belieben einsetzbaren) Vorrat zu verfügen, ist an sich eine schöne Sache. Reichtum ist ein Sicherheitspolster gegenüber den Eventualitäten der Zukunft, gibt das Gefühl von Unangreifbarkeit und Überlegenheit. Auch das ist eine Form, Reichtum zu genießen. Wenn der Reiche jedoch seinen Reichtum nicht genießt, sondern nutzt, um ihn endlos zu vermehren, wird eine Gefahr für das soziale Gleichgewicht heraufbeschworen. Ohne den Reichen moralisch freizusprechen, muss man sich klarmachen, dass es nicht einfach Gier ist, die den Reichen dazu treibt. Ab einer gewissen „kritischen Masse” des Reichtums kann man nicht mehr „dagegen ankonsumieren” – allen Edelkarossen, Luxusyachten und Privatflugzeugen zum Trotz – und hat praktisch keine andere Wahl, als ihn zu seiner Vermehrung zu nutzen – es sei denn, man ist bereit, Teile seines Reichtums ständig für gute Zwecke zu stiften, zu verschenken oder in „Rosengärten” zu investieren, was leider eher seltene Phänomene sind. So ist ein Zusammenhang zu konstatieren, der jenseits von persönlischer Moral und Lebenseinstellung der Reichen zu existieren scheint: je mehr sich die Vermögen konzentrieren, desto mehr tummelt sich das Geld auf den (internationalen) Finanzmärkten.
Der Finanzmarkt ist eine „abgehobene”, künstliche Welt, in der keine realen Werte geschaffen werden können, durch die dann Einkommen entstehen. Die Einkommen, die in der Finanzsphäre generiert werden, speisen sich aus den Verlusten anderer. Diese Einkommenserzeugung ist nicht natürlichen Grenzen und Gesetzen des Realen unterworfen. Wenn für sie Grenzen und Regulierungen nicht politisch organisiert werden, entstehen in dieser Sphäre Geldvermögen und Verschuldungen, die alle Vorstellungen übersteigen und die Bindekräfte des Gemeinwesens sprengen. Diese künstliche Welt der Geld-Geld-Geschäfte, die sich nicht um die zeitlichen und räumlichen, ökologischen wie sozialen Begrenzungen der realen Welt kümmert, sondern sich ihre eigenen Spielregeln gibt, befindet sich jedoch nicht auf einem anderen Stern, sondern mitten in der realen Welt und wirkt massiv auf diese zurück. Ein Spielabend unter „Kameraden”, bei dem kein realer Wert geschaffen oder vernichtet wird, und das Reglement verantwortungslose Schuldenanhäufung nicht ausschließt, kann unter dem Diktat eines archaischen „Ehrenkodex” bewirken, dass am nächsten Morgen ein junger Mann sein Leben beendet. Ein Vorgang, dem noch eine gewisse Gerechtigkeit innewohnt. Wenn heute im Interesse leistungsloser Einkommen die verantwortungslose Verschuldung von Staaten zugelassen, ja vielfach sogar gefördert und erzwungen wird und ein ähnlicher „Ehrenkodex” zum Einsatz kommt, der die „financial correctness” höher achtet als das Leben von Menschen und verlangt, dass Schulden unter allen Umständen eingetrieben werden müssen, dann zahlt für die aus den „Geldspielen” der Regierungen bzw. der staatstragenden reichen Eliten hervorgegangenen Schulden die breite Bevölkerung, die nichts mit diesen „Spielen” zu tun hat, nicht selten mit Elend und Armut. Ein Vorgang, dem keine Spur von Gerechtigkeit innewohnt.
Während in der realen Wirtschaftswelt Einkommen zumeist eine Leistung (für die Gemeinschaft) voraussetzt, sei es durch unselbständige Arbeit für andere, sei es durch die selbständige unternehmerische Tätigkeit, ist der Finanzmarkt eine weltumspannende Umverteilungsmaschinerie, die Einkommen nicht nach Leistung, sondern direkt oder indirekt nach Vermögen zuteilt. Hier rotieren die „Teufelskeise” der Selbstvermehrung des Reichtums.
Man mag es moralisch kritisieren, dass Reichtum zu seiner Vermehrung genutzt wird, doch der springende Punkt sind die Mechanismen in der der gesellschaftlichen Organisation des Finanzwesens, die dem Reichen dazu unbegrenzte Möglichkeit eröffnen. Diese müssen politisch in Frage gestellt werden.
Angesichts von Finanzkrise, Staatsverschuldung, Sozialabbau usw. werden gegenwärtig alle möglichen Varianten von „Reichensteuern” gefordert: Erhöhung der Spitzensteuersätze, Wiedereinführung der Vermögenssteuer, einmalige Sonderabgaben auf besonders große Vermögen, Zwangsanleihen usw. Diese Vorstöße setzen strategisch an der falschen Stelle an und blenden den eigentlich kritischen Punkt aus: die Herkunft des Reichtums.
Es bringt wenig, den Bestand des Reichtums zu attackieren, wenn man seinen Zufluss unangetastet lässt. Bevor man politisch versucht, den Reichen etwas von ihrem Reichtum zugunsten der Allgemeinheit zu nehmen, sollte man die Mechanismen ausschalten, die automatisch den Reichtum der Reichen zulasten der Allgemeinheit ohne (eigene) Leistung endlos vermehren. Die Dekonzentration des aufgelaufenen Reichtums wird irgendwann als politisches Projekt unausweichlich sein, heute jedoch ist es vordringlich notwendig, den Konzentrationsprozess zu stoppen.
Der erste “Teufelskreis” des „Finanzmarktes: dIe Selbstvermehrung des Reichtums durch Kreditvergabe gegen Zins[2]
Der sicherste wirkungsmächtige Mechanismus der Selbstvermehrung des Reichtums hängt unmittelbar mit der Organisation unseres Geldwesens zusammen, zu dem wie selbstverständlich und vermeintlich alternativlos Zins und Zinseszinses gehören. Hier handelt es sich um einen eigentlich leicht zu behebenden „Geldfehler”.[3]
Manche kritisieren den Zins vor allem als ein Einkommen ohne (eigene) Leistung. Doch das allein ist nicht der Punkt. Eine Rente wegen Behinderung oder Sozialhilfe sind ebenfalls Einkommen ohne entsprechende (eigene) Leistung. Doch hier wird kein Teufelskreis etabliert, denn durch ein solches Einkommen wächst normalerweise nicht die Bedürftigkeit und die Berechtigung bzw. die (Berechnungs-) Basis des Einkommens. Der Punkt beim Zins ist, dass es sich hier um ein leistungsloses „Einkommen auf Vermögen” handelt. Dieses Einkommen vergrößert das Vermögen, was zur Vergrößerung des Einkommens führt usw.usw.
Der Zins transportiert das Geld automatisch und unablässig dorthin, wo es am wenigsten gebraucht wird, nämlich dorthin, wo schon zu viel davon vorhanden ist, soviel, dass man es als Kredit vergeben kann. Damit wachsen mit der Vermögenskonzentration im Gleichschritt die Verschuldungen und damit die zu zahlenden Zinsen, die den Vermögenden zufließen. Der Prozess der Reichtumskonzentration beschleunigt sich ständig gemäß der Exponentiallogik des Zinseszinses.
Der durch den Zins bedingte Geldstrom hin zu den Vermögenden erscheint auf der „Landkarte” des offiziellen Weltbildes als klar erkennbarer Strom vom Schuldner hin zum Gläubiger, also als Transfer zwischen direkt am Kreditgeschehen Beteiligten. Dieser Teil des Flusses ist ein Tatbestand, den jeder kennt und vielen auch schmerzhaft vertraut ist. Doch er gelangt trotzdem nicht in dem Maße „ins Gerede”, wie es den brutalen Folgen dieses Geldflusses angemessen wäre. Im landläufigen Bewusstsein genießt der Zins eine Art Kritikimmunität. Ist es denn nicht rechtens, dass derjenige, der sich Geld leiht, um zeitlich früher konsumieren zu können, als es sein Einkommen erlaubt, dafür einen Preis in Form des Zinses entrichten muss? Und wenn Unternehmer Fremdkapital aufnehmen für ihre Geschäfte, was ist daran Schlimmes, dass sie einen Teil ihres Gewinnes in Form von Zinszahlungen an die Kapitalgeber abliefern müssen? Mit mir normalen Bürger, der ich nicht verschuldet bin, hat das doch alles nichts zu tun! Was kümmert es mich, dass Familien ins Elend geraten, Unternehmen Bankrott gehen oder dass die armen Ländern des Südens durch einen nicht endenden Zinsfluss an die „Geldgeberländer” des reichen Nordens ausgeplündert und de facto zu deren Geldgebern werden? Alle diese Phänomene haben vielfältige negative Rückwirkungen auf unsere Lebenswirklichkeit.
Warum wir die Probleme, die mit dem Zins verbunden sind, verdrängen, ist hier nicht das Thema. Doch auch in ökonomischer Hinsicht kann uns der Zins nicht kaltlassen, denn er betrifft massiv unseren eigenen Geldbeutel. Denn der Geldfluss vom Kreditnehmer zum Kreditgeber ist, was die vielen Kredite betrifft, die von Wirtschaft und Staat aufgenommen werden, nur die halbe Wahrheit. Wo der zinsbedingte Geldfluss mündet, ist offensichtlich und unbestreitbar: bei den Vermögenden. Aber wo er entspringt, liegt im Dunkel. Der sichtbare „Oberlauf” des zinsbedingten Geldflusses ist gewissermaßen um einen verborgenen „Unterlauf” verlängert. Besteht seine Quelle tatsächlich in den Gewinneinbußen, die die Kreditnehmer, Unternehmen, Produzenten, Immobilieneigentümer hinnehmen müssen? Ich habe da starke Zweifel. Die Angebotsmacht der (organisierten) Wenigen ist immer größer als die Nachfragemacht der (unorganisierten) Vielen. Es ist eher eine temporäre Ausnahme, wenn Unternehmen, Immobilienbesitzer, Bauherren usw. auf ihren Gewinn (teilweise) verzichten müssen wegen ihrer Kreditzinsen. Über die Länge der Zeit gelingt es ihnen unter den herrschenden Marktbedingungen und Machtverhältnissen, ihre Kreditkosten auf ihre Kunden bzw. Mieter umzulegen. Investitionen, die nicht erwarten lassen, dass das gelingt, werden gar nicht erst getätigt. Dasselbe gilt für Investitionen von Eigenkapital in irgendwelche Projekte. Sie unterbleiben im Regelfall wenn sie nicht mindestens eine Rendite in der Höhe des durch Kreditvergabe erzielbaren Zinses versprechen. Und Unternehmen, Produktionen, Immobilien usw., bei denen man aufgrund von Veränderungen im Umfeld nicht mehr „auf seine Kosten kommt” und Verluste hinnehmen muss, verschwinden vom Markt. Über die Länge der Zeit gesehen werden sich die Produzenten die für eingesetztes Fremdkapital zu zahlenden Zinsen bzw. die erwartete Verzinsung des eingesetzten Eigenkapitals über den Verkauf der Produkte hereinholen. Bei Investition in Immobilien sind es entsprechend die Mieter, die zur Kasse gebeten werden. Und Staatsschulden werden zu Steuerlasten.
So steckt in allen Ausgaben, die eine Person bzw. ein Haushalt tätigt, ein mehr oder weniger großer Zinsanteil. Er liegt heute im Durchschnitt bei 30%. Dieser durchschnittliche Zinsanteil in allen Ausgaben der Haushalte als solcher wäre kein Problem, selbst ein doppelt so hoher nicht, wenn die Spreizung der Einkommen bzw. der Ausgaben der Haushalte der Spreizung der Vermögen entspräche. Jeder würde dann durch die Verzinsung seines Vermögens genau so viel hereinbekommen, wie er in seinen Ausgaben indirekt an Zinsen bezahlt. In Wahrheit ist aber der Unterschied zwischen ARM und REICH bei den Vermögen wesentlich größer als bei den Ausgaben. Das bedeutet: es gibt Gewinner und Verlierer in einem Zinssystem. Und der Gewinn des einen ist der Verlust des anderen. Ein Haushalt, der über seine Ausgaben mehr an Zinsen indirekt bezahlt, als er aufgrund eigenen Vermögens an Zinsen direkt einnimmt, ist Verlierer des Zinssystems. (Jeder kann in Minutenschnelle seine persönliche Bilanz machen, indem er die 30% seiner jährlichen Ausgaben mit seinen jährlichen direkten Zinseinnahmen vergleicht). Gewinner ist der, dessen Vermögen so groß ist, dass er mehr an Zinsen direkt einnimmt, als er über seine allgemeinen Ausgaben an Zinsen indirekt bezahlt. In dieser glücklichen Lage sind gerade mal 10% der Haushalte, die reichsten, in unserem Land. Der dadurch bedingte „unterirdische Geldstrom” von 90% der Haushalte hin zu den 10% der reichsten Haushalte liegt heute bezogen auf Deutschland in der Größenordnung von 100 Mrd. € pro Jahr[4]. Er ist in Abhängigkeit von der jeweiligen Höhe des Zinsniveaus und vom Konjunkturverlauf stark schwankend, kann wohl auch durch Fehlinvestitionen und gelegentlich hinzunehmende Gewinneinbrüche abgemildert werden. Wenn das jedoch im großen Stil passiert und sich z.B. Investoren im Immobiliensektor verkalkulieren und es ihnen nicht gelingt, ihre Zinskosten einzuspielen, dann ist sehr bald der Rückfluss des Geldes an die Kreditgeber bedroht. Große Mengen von Bauruinen stehen dann in der Landschaft, so heute in Spanien zu besichtigen, und aus der Immobilienkrise droht eine Krise des Finanzsystems zu werden, zu deren Abwehr der Staat bzw. der Steuerzahler auf den Plan gerufen wird. So wird letztendlich über den Umweg Staat wieder die Allgemeinheit zur Kasse gebeten.
Der eigentlich bedrohliche Sachverhalt ist die positive Rückkopplung bei der Umverteilung durch den Zins. Je größer die Ungleichverteilung bei den Vermögen ist, desto mehr gewinnen die Vermögenden und je mehr die Vermögenden gewinnen, desto größer wird die Ungleichverteilung bei den Vermögen.
Im Zuge meiner beruflichen Tätigkeit in der angewandten Systemforschung sind mir durchaus schwerwiegende problematische Aspekte des Zinses ins Blickfeld geraten. So sehe ich seit langem, dass der Zins eine „Abdiskontierung der Zukunft” bewirkt, d.h. zu einer systematischen Unterbewertung zukünftiger Probleme und Gewinne führt. Die Zinsen verschieben z.B. die betriebswirtschaftliche Kalkulation von Energieeinsparinvestitionen massiv zugunsten des Verbrauchs von Energie. Ohne Zinsen hätten wir den Energieverbrauch seit den Ölkrisen viel stärker senken und uns aus der gefährlichen und vielfach beschämenden Abhängigkeit von Energieimporten befreien können! Zinsen machen den schnellen Verbrauch der natürlichen Ressourcen ökonomisch attraktiver und beschleunigen damit die „Vernutzung” der Umwelt. Zinsen erschweren den Übergang auf einen nachhaltigen Entwicklungspfad. Das ist mir seit langem klar, aber der massive Umverteilungseffekt von „unten” nach „oben”, der mit dem Zinssystem verbunden ist, lag für mich, wie es für die meisten Zeitgenossen heute immer noch der Fall ist, gleichsam unter einem dichten Nebel verborgen. Es ist bis heute nicht ins öffentliche Bewusstsein gelangt, wie massiv und unnötigerweise (denn ein Geldsystem würde auch ohne Zins in seiner heutige Form funktionieren, s.u.) die Reichen, die es am wenigsten nötig haben, durch unser Zinsgeldsystem von der Allgemeinheit subventioniert werden. Eigentlich hätte es schon längst zum „Aufstand der Betrogenen” kommen müssen. Man stelle sich vor, der Zinsanteil in den Ausgaben würde deutlich erkennbar ausgewiesen wie der Steueranteil beim Benzin oder die Mehrwertsteuer. Sodass jedem zum Bewusstsein käme, wie viel billiger das Produkt, das er gerade kauft, oder wie niedrig seine Wohnungsmiete wäre, wenn die Kreditgeber nicht „zinsbeschenkt” würden.
Der Zins ist nicht nur in seinen unmittelbaren Auswirkungen als Verursacher eines selbsttätig wachsenden Transfers von ARM nach REICH ein Verhängnis. In kognitiver Hinsicht ist er zudem der Erregerherd einer Verseuchung des menschlichen Geistes, einer Mentalität, die den leistungslosen Gewinn gleichsam für ein Naturrecht des Geldbesitzers ansieht. Wer immer über eine gewisse Menge Geld verfügt, hält es nicht nur für moralisch völlig legitim, sondern geradezu für eine Pflicht, damit „Geld zu machen”, ohne dafür irgendetwas für die Gemeinschaft zu leisten. Der Zins wirkt gewissermaßen als Gift auf den Geist der sozialen Verantwortung. Er fördert eine Haltung, der es völlig selbstverständlich erscheint, zu nehmen, ohne zu geben. Eine Gesellschaft kann von dieser ansteckenden “sozialpsychologischen Krankheit “, wie sie sich am hässlichsten in der amoralischen Figur des Spekulanten zeigt (s.u. Der zweite Teufelskreis), nicht geheilt werden, solange sich Menschen immer wieder am Zins infizieren, der handgreiflich demonstriert, dass man ohne Arbeit und Leistung kassieren kann.
Wird Reichtum in Geldform angehäuft, so bedeutet der Konzentrationsprozess nicht nur über kurz oder lang unerträglich werdende soziale Ungerechtigkeit, sondern zusätzlich ein wachsendes Geldumlaufproblem mit weitreichenden Auswirkungen auf das Gesamtsystem. Es gibt nämlich wie schon erwähnt einen proportionalen Zusammenhang zwischen Reichtum und sog. Sparquote. Je reicher ein Haushalt ist, desto größer ist der Anteil des Einkommens, der nicht konsumiert, sondern zur Vermehrung des eigenen Reichtums eingesetzt werden kann. Damit wächst mit der Vermögenskonzentration auch die Sparquote des Landes insgesamt. Mit anderen Worten: mit zunehmender Konzentration des Geldes wächst das Problem der Geldhortung und Geldflussunterbrechung. Immer mehr Schulden müssen gemacht werden, damit das Geld in den Kreislauf zurückkommt, das die Reichen nicht ausgeben wollen oder können. Mit der Reichtumskonzentration in einem Land bzw. der Welt insgesamt wächst das Verschuldungsproblem im nationalen wie globalen Maßstab. Die verhängnisvolle Zunahme der Verschuldungen, auch gerade der Staatsschulden, wird zumeist nur unter dem Aspekt des unsoliden, leichtsinnigen Wirtschaftens der Schuldner gesehen und kritisiert, während der einer Zinswirtschaft inhärente Systemzwang zu wachsender Kreditaufnahme zwecks Rückführung des sich immer mehr „konzentrierenden” Geldes in den Wirtschaftskreislauf unterbelichtet bleibt. Das unauflösbare Dilemma der Zinswirtschaft: das Schuldenmachen, das das Problem der Geldrückführung jeweils kurzfristig löst, verschärft es zugleich in seiner Dimension, weil dadurch die Reichtumskonzentration weiter befördert wird. Das Zinsgeldsystem zerstört aufgrund des wachsenden Geldumlaufproblems unaufhaltsam seine eigene Funktionsfähigkeit und damit die Lebensfähigkeit der arbeitsteiligen Gesellschaft. Der Staat, der das zu verhindern sucht , indem er sich selbst massiv verschuldet, der sich aber auch nicht grenzenlos verschulden kann, verschiebt den Systemkollaps nur etwas in die Zukunft, verschärft aber gleichzeitig die ganze Problematik, denn der Teufelskreis dreht sich weiter. Der Staat, der nicht an den Kern des Problems zu rühren wagt, wird zum tragischen Zwangsmitspieler im großen Transfer des Geldes dorthin, wo es schon im Übermaß vorhanden ist und nur unter Kosten, die die Allgemeinheit tragen muss, in den Kreislauf „zurückzulocken” ist. Durch diese vergeblichen und letztlich kontraproduktiven Bemühungen schliddert der Staat in die „Staatsschuldenkrise”, die Wirtschaft und Gesellschaft sehr schnell in den Abgrund reißen kann – die akute Gefahr, in der wir gegenwärtig (Frühjahr/Sommer 2012) stehen.
Das hier angesprochene Problem der Selbstalimentation des Reichtums durch den Zins existiert im Prinzip auch in der nationalen Volkswirtschaft. Unter den Bedingungen der kapitalistischen Globalisierung bekommt es sowohl unter dem Aspekt der Stabilitätsgefährdung als auch der unerträglichen Ungerechtigkeit eine noch größere Dimension. Ganze Länder werden durch ihre Verschuldungen, in die sie oft regelrecht gezwungen wurden, in Abhängigkeit gehalten und schamlos ausgebeutet. Sie werden erst in die Schulden und dann zwecks Schuldeneintreibung ins Elend getrieben. Die Abhängigkeit hält an, selbst wenn die Summe der getätigten Zinszahlungen den ursprünglich „gewährten” bzw. aufgedrängten Kredit rechnerisch längst übertrifft. Das Verhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner ist kein Verhältnis zwischen gleichgewichtigen Partnern, die beide profitieren, wie uns die Bankenbranche in ihrer Werbung zu suggerieren versucht, sondern ein Machtverhältnis. Schon der übliche Sprachgebrauch lenkt in eine irrige Richtung: Wenn davon die Rede ist, dass Schulden „gemacht” werden, denkt jedermann unwillkürlich an die, die sich Geld leihen, und nicht an die, die an den Verschuldungen interessiert sind: Reiche, die Geld übrighaben und liebend gern gegen möglichst hohe Zinsen verleihen und die ihre Macht spielen lassen, dass sich mehr und mehr Menschen nur noch durch (immer weitere) Kredite zu helfen wissen. Die Reichen sind die wahren „Schuldenmacher”.
Der zweite Teufelskreis des „Finanzmarktes”: die Selbstvermehrung des Reichtums durch die Spekulation
Die in den letzten Jahren explosionsartig angeschwollene Spekulation ist die Folge der bereits weit fortgeschrittenen Konzentration des Reichtums: Die Geldmassen in den Händen weniger finden in den „reifen”, hochentwickelten kaum noch wachstumsfähigen Volkswirtschaften nicht mehr genug Anlagemöglichkeiten mit der erwarteten hohen Rendite. Große Mengen des „überflüssigen” Geldes drängen in die Spekulation in der Hoffnung, dort schneller mit Geld „Geld zu machen” als durch Investitionen in die reale Wirtschaft bzw. durch Kreditvergabe. Wobei heute die Grenzlinie zwischen Kreditvergabe und Spekulation verschwimmt: wer wegen der extrem hohen Verzinsung Staatsanleihen eines hochverschuldeten und kaum noch wettbewerbsfähigen Landes kauft, ist selbst nach Einschätzung mancher systemkonformer Ökonomen kein normaler Kreditgeber, der einen gewissen Schutz vor Verlusten genießen sollte, sondern ein Spekulant, der einen solchen Schutz nicht verdient.
Oft werden die Wettspiele der Spekulanten als Nullsummenspiele angesehen, bei denen der eine Spekulant gewinnt, was der andere verliert. Das trifft zwar formal zu, ist aber inhaltlich nichtssagend bis irreführend, weil suggeriert wird, Spekulant sei gleich Spekulant. Ginge es bei diesen Wettspielen der Spekulation um Spiellust, um den Nervenkitzel des Risikos, dann sollte man doch meinen, dass den Spielernaturen das Roulette genügen und das Casino als der geeignete Ort erscheinen müsste, um der Spielsucht zu frönen. Aber so ist es mitnichten. Im Casino sind alle Spieler gleich vor dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit. Das Casino ist deshalb für die professionellen „Geldmacher” uninteressant. An der Börse hingegen gibt es keine Gleichheit; hier herrscht das „Gesetz des Stärkeren” Hier hängen die Gewinnchancen mit realen Prozessen in Wirtschaft und Gesellschaft sowie mit psychischen und kognitiven Prozessen der Spielteilnehmer selbst zusammen. Auf alle diese Prozesse kann man Einfluss nehmen. Und es sind die Mächtigen, Großen und Reichen, die Zugang zu Insiderwissen haben, mit den Entscheidungsträgern der Politik Umgang pflegen, die besten Analysten und cleversten Berater bezahlen können. Die ganz Großen können sich Ratingagenturen kaufen bzw. unter Druck setzen, können dank Einsatzmasse, die sie in die Waagschale werfen, auf die Kurse direkt Einfluss nehmen und über die Informationskanäle, die sie mehr oder weniger beherrschen, die Stimmung der sog. „Börsianer” (was für eine seltsame Ethnie Mensch ist das eigentlich?) in Richtung Pessimismus oder Optimismus lenken, Paniken auslösen, Illusionen verstärken usw. und damit indirekt den Kursverlauf beeinflussen. Die Wetten an den Börsen werden so zu manipulierten Wetten. Je reicher ein Spekulant ist, desto größer sind seine Möglichkeiten, Wetten zu manipulieren und dadurch reicher zu werden und dadurch noch mehr Macht zur Manipulation zu erlangen usw. Die Spekulation ist neben dem Kredit gegen Zins die andere große qualitativ eigenständige, nach eigenen Gesetzen funktionierende Weise des Transfers des Geldes hin zu den Reichen[5]. Eine der Besonderheiten dieses „Teufelskreises” ist die höhere Geschwindigkeit, mit der er dreht. Denn Finanzgeschäfte unterliegen weder den Zeitparametern realer Prozesse, die bei Investitionen eine Rolle spielen (Entwicklungszeiten neuer Produkte von der Idee bis zur Serienreife; Lebensdauer und Erneuerungszyklen realer Produkte, Zeitbedarf für Werbekampagnen usw.), noch dem Jahresrhythmus der Zinszahlungen.
So wie beim Zins (s.o) zwei Geldströme den Reichtum der Reichen vermehren, so auch bei der Spekulation. Beim Zins gibt es einerseits den direkten Geldstrom, der die Schuldner, vor allem Privat- bzw. Konsumschuldner, „bluten” lässt, die ihre Zinskosten nicht auf andere abwälzen können, und andererseits den indirekten, der alle, auch Unbeteiligte, belastet. Der erstere ist die Folge der freiwillig getroffenen Entscheidung, einen Kredit aufzunehmen. Der zweite trifft jeden automatisch als Mitglied der Wirtschaftsgemeinschaft, als Konsument, Mieter, Theaterbesucher oder Steuerzahler. Ganz ähnlich gibt es bei der Spekulation die Verluste jener, die sich freiwillig (wie auch immer fehlgeleitet und verführt) an der Spekulation beteiligen, indem sie (oft nach langem Zögern und zumeist zum falschen Zeitpunkt) Aktien oder andere handelbare Papiere kaufen, in der Hoffnung, auch einmal zu denen zu gehören, die den großen Reibach machen. Ohne Wissen, Erfahrung, starke Nerven, ausreichende Reserven für einen langen Atem, Einflussmöglichkeiten usw. bilden sie einfach nur die Masse der „kleinen” Mitspieler, die die professionellen „großen” für ihr „Geldmachen” brauchen. Immerhin kann man hier sagen: „selber schuld!”. Spekulation ist jedoch mit einem zweiten großen Transfer verbunden, bei dem gänzlich an der Spekulation Unbeteiligte zur Kasse gebeten werden. Dafür sind vor allem zwei Sachverhalte verantwortlich: die Größenordnung der eingesetzten Gelder und die Systemrelevanz der Spekulanten: große Banken, die mit anderen Banken und anderen großen Geldinstitutionen, Versicherungen, Fondsgesellschaften hochgradig vernetzt sind, sind heute große Spekulanten. Wenn sie sich verspekulieren, können durch sich ausbreitende Vertrauensverluste die Stabilität und Funktionsfähigkeit des ganzen Finanzsystems gefährdet sein. Angesichts der dann drohenden allgemeinen Wirtschaftkrise sind die Politiker bereit, mit Staatsmitteln, sprich: mit Steuergeldern große Verluste der Finanzindustrie zu sozialisieren. So wird auf indirekte und nachträgliche Weise die gesamte Bevölkerung zu den zahlenden Opfern der Spekulanten. Bei dieser unrühmlichen Mittäterschaft des Staates am Geldtransfer von ARM nach REICH wird oft vergessen, dass es naive oder korrupte Politik war, die im ideologischen Bannkreis des Neoliberalismus die Deregulierung für den Heilsweg zu wirtschaftlicher Größe angesehen und der Finanzwirtschaft das Tor zu immer risikoreicheren Transaktionen weit geöffnet hat. Das mag auch der Grund sein, warum bislang, vier Jahre nach der großen Finanzkrise von 2008, noch keiner der Bankmanager, die Unsummen verspielt haben, juristisch zur Verantwortung gezogen wurde. Doch das ist ein Thema für sich, das hier nicht vertieft werden soll.
Heute haben die privaten und staatlichen Verschuldungen ein astronomisches Ausmaß erreicht, und es ist absehbar, dass die Steuermittel nicht ausreichen werden, um die sog. Anleger, die sich wegen hoher Zinsen leichtsinnig zu sehr risikoreichen Kreditvergaben haben verleiten lassen, vor dem Verlust ihres „Spieleinsatzes” zu bewahren. Wenn der Staat weiterhin meint, Verluste von reichen „Profitjägern” müssten unbedingt vermieden werden und dazu immer milliardenschwerere „Rettungsschirme” aufspannt, um „die Märkte zu beruhigen”, wie es so schön heißt, im Klartext: um die reichen Geldbesitzer zum weiteren Einsatz ihres Kapitals und zur Fortsetzung des großen „Gewinnspiels” zu ermutigen, dann werden die Verschuldungen weiter wachsen, und das wird in der Konsequenz bedeuten, dass nicht nur die Steuerzahler die Dummen sind, sondern dass die Mehrzahl ihre Ersparnisse einbüßen werden. Die Politik sollte sich überlegen, wie das „Spiel” zu möglichst geringen Kosten zu beenden ist, anstatt verzweifelt nach Wegen zu suchen, wie es immer noch ein Stückchen in die Zukunft zu verlängern ist[6]. Je länger man den „Zahltag” vor sich herschiebt, desto größer wird dir Rechnung sein, die dann aufgemacht wird.
Mit der Spekulation sind nicht nur die erwähnten Geldflüsse hin zu den Reichen verbunden. Die Spekulation verstärkt auch in einem umfassenden Sinn indirekt die Tendenz, das Geld weltweit dahin zu lenken, wo die Umweltstandards am niedrigsten sind und hart arbeitende Menschen am schlechtesten entlohnt werden und deshalb die höchsten Renditen erwartet werden können. Die Spekulation wird so zum essentiellen Teil des globalen Systems der Naturverwüstung und Ausbeutung fremder Arbeit zum Zwecke der Bereicherung von nichtarbeitenden Reichen.
Mehr als diese Ausbeutung, die langfristig die Katastrophe heraufbeschwört, beunruhigt, dass die Spekulation, wie sie heute im großen Stil und mit rasender Geschwindigkeit betrieben wird, ein ständiges „Spiel mit dem Feuer” ist, ein Feuer, das schon sehr bald den Flächenbrand der großen Krise entzünden kann.
Die Suche nach Auswegen aus den Teufelskreisen des Finanzmarktes
Wenn ich im Folgenden nach Lösungswegen suche, die im Rahmen nationaler Politik, vor allem durch steuerliche Impulse möglich sind, so stehen alle Überlegungen unter dem Vorbehalt: Solange die Politik im Bannkreis liberalistischer Ideologie Kapitalverkehrskontrollen aussetzt und dem Kapital die Freiheit einräumt, die ganze Welt zu seiner Spielwiese zu machen, ist die Wirksamkeit nationaler (ja, selbst europäischer) Maßnahmen fragwürdig. Dennoch macht die Suche Sinn. Das zu tun, was heute im nationalen bzw. europäischen Rahmen möglich ist, schließt ja nicht aus, sich insgesamt vom Neoliberalismus und der Doktrin von der unbedingten Vorteilhaftigkeit grenzenlosen Austauschs zu befreien und an einer zukünftigen neuen Weltordnung zu arbeiten, in der das Prinzip gilt: „So viel (regionale) Autonomie und Selbstversorgung wie möglich, so viel (überregionale, internationale) Vernetzung und Austauschbeziehungen wie nötig”.
Zur Vermeidung eines Missverständnisses sei noch betont: so wenig, wie es mir hier um eine konkrete politisch-historische Analyse der gegenwärtigen Eurokrise ging (dazu müsste vor allem der Sinn einer gemeinsamen Währung in einem politisch zerteilten und wirtschaftlich und technologisch inhomogenen Europa sowie die Konsequenzen der bedingungslosen deutschen Export- und Weltmarktorientierung und die Rückwirkungen der deutschen Agenda 2010 auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit von Griechenland, Portugal usw. diskutiert werden), geht es mir hier um einen konkreten Ausweg aus der akuten Staatsschulden- bzw. Eurokrise. Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, wie der Zusammenbruch des Euro und eine baldige schwere Wirtschaftskrise unter der Bedingung eines „freien” Weltmarktes noch abzuwenden sind. Meine Intention ist bescheidener und unbescheidener zugleich: Es geht mir um langfristig notwendige Strukturveränderungen, um die Macht der Teufelskreise der Reichtumskonzentration zu brechen, ansonsten laufen wir zwangsläufig immer wieder in solche Krisen und letztendlich in den gesellschaftlichen Kollaps.
Ich beginne mit dem Zins und den durch ihn bedingten “Teufelskreis”. Wir sind ihm keinesfalls auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, denn zum Zins als Geldumlaufsicherer gibt es eine Alternative: Liquidität muss einen Preis bekommen, was ethisch und logisch völlig in Ordnung und marktsystemkonform wäre. Auf dem Markt bekommt man nichts für umsonst, weder einzelne Waren, noch Bildung, Wissen oder Mobilität. Warum soll ausgerechnet die Liquidität eine Ausnahme machen? Wer Geld im Tresor oder auf dem Girokonto zwecks sofortiger Verfügbarkeit für Geschäfte oder für Spekulationszwecke zu seinem eigenen Vorteil „hält”, also bei sich „stehen” lässt, muss dafür eine Art „Standgeld” bezahlen, in Form eines prozentualen Wertverlusts z.B. von 6% pro Jahr auf das zurückgehaltene Geld. (Für die technische Realisierung existieren verschiedene Modelle, denen wir hier nicht nachgehen). Dieser Wertverlust fungiert als „Umlaufsicherung”. Denn man kann diesem Wertverlust nur entgehen, wenn man Geld, das man für eine gewisse Zeit nicht selbst verwenden will (für Konsum oder Investitionen), für diese Zeit anderen als Kredit zur Verfügung stellt und damit in Guthaben verwandelt. Auch in Guthabenform wird Reichtum bequem und sicher „über die Zeit” gebracht. Dieser große Vorteil sollte eigentlich genügen. Der entscheidende Punkt: Dem Besitzer von (für ihn) überflüssigem Geld ist die Basis für die „Zinserpressung” entzogen. Er kann nun nicht mehr auf seinem Reichtum in Geldform sitzen bleiben und warten, bis die Zinsen auf die gewünschte Höhe steigen, denn das Warten verursacht durch das „Standgeld” Kosten. Der Gesellschaft steht nun reichlich Liquidität zur Verfügung, da sie nicht mehr gehortet wird. Der Zins sinkt nach marktwirtschaftlicher Logik gegen Null.
Im neuen Geldwesen wird Geldhortung also nicht dadurch vermieden, dass Geld durch ein „Lösegeld” in den Kreislauf „gelockt” wird, sondern dass es vor dem „Standgeld” in den Kreislauf „flieht”.
Während der Zins private Taschen füllt, fließen die Einnahmen aus der alternativen Umlaufsicherung in den Staatshaushalt, was sachgemäß ist, denn es ist die Gesellschaft als ganze, repräsentiert durch den Staat, die die Liquidität in Form des Geldes schafft und erhält. Und während durch die Zinseinnahmen die Reichen immer reicher werden, machen die Einnahmen aus der alternativen Umlaufsicherung den Staat keineswegs immer reicher! Diese hat den verhängnisvollen Effekt der positiven Rückkopplung nicht.
Die neue Umlaufsicherung ist also
(Erstens) effektiv, d.h. sie treibt, das Geld wirksam aus der Hortung in den Wirtschaftskreislauf und macht den Zins als Umlaufsicherung überflüssig.
Daniel Kahnemann, Nobelpreisträger für Ökonomie 2002, hat bereits 1979 empirisch nachgewiesen, dass ein Verlust emotional doppelt so schwer wiegt wie ein Gewinn der gleichen Höhe[7]. Das bedeutet, dass die Vermeidung eines Verlustes stärker motiviert als ein gleichhoher Gewinn. Wer seine „überflüssigen” 1000 € zur Bank trägt, um 60 € an Zinsen zu kassieren, wird das erst recht tun, wenn er dadurch 60 € Verlust vermeiden kann.
(Zweitens) effizienter als der Zins, da der erwünschte Effekt ohne die verheerenden „Nebenwirkungen”, die der Zins hat, erreicht wird. Diese „Nebenwirkungen” noch einmal zusammengefasst:
a) Der Zins bedeutet massive Subventionierung des Reichtums und ist eine der Quellen der „Übervermögen” und „Überschuldungen”, der wachsenden Polarisierung in ARM und REICH und damit auch der heute ausufernden Spekulation. Die Gebühr auf Liquidität hingegen bereichert niemanden.
b) Der Zins etabliert einen Infektionsherd in der herrschenden Mentalität für die sozialpathologische Sucht des leistungslosen „Geldmachens”, womit der Zins letztlich auch die geistige Quelle der Spekulation ist.
c) Der Zins verführt zu Kreditvergaben mit hohem Ausfallrisiko. Diese Missachtung der Sicherheit aus Profitinteressen macht das Finanzsystem, wie die Finanzkrisen zeigen, äußert fragil und instabil. Bei der alternativen Umlaufsicherung existiert keine vergleichbare Verlockung, Sicherheitsaspekte zu überspielen.
(Drittens) im höheren Maße mit dem Geist der Marktwirtschaft kompatibel.
Die heute herrschende Praxis der kostenfreien Überlassung der Liquidität an Private von Seiten des Staates räumt diesen unnötigerweise eine Machtposition ein, einen hohen Zins zu erpressen, wenn er eigentlich aufgrund der vorhandenen Kapitalmengen nach Marktgesetzen gegen Null tendieren müsste. Es zeigt sich hier eInmal mehr: Macht korrumpiert den Markt. Die neue Umlaufsicherung nimmt dem Reichtum diese Macht. Der Zins wird gewissermaßen dazu befreit, seine marktgemäße Rolle als Knappheitspreis für das Kapital unverzerrt zu spielen.
Eine Gebühr auf Liquidität als alternative Geldumlaufsicherung bedarf keiner tieferen Eingriffe in bzw. Veränderungen der marktwirtschaftlichen Ordnung. Es müssen weder Freiheitsrechte von Bürgern und Konsumenten noch die Eigentumsordnung angetastet werden. Angetastet und überwunden werden muss „nur” die „Mentalität des leistungslosen Gewinns”, die im tiefsten dem Geist der Marktwirtschaft und den Werten, auf denen sie basiert, zuwider ist. Die Überwindung dieses Teufelskreises ist nicht nur verträglich mit der Marktwirtschaft, sondern bedeutete eine „Renaissance” der marktwirtschaftlichen Ordnung aus der „kapitalistischen Verdunklung”.
Das gilt in noch unzweifelhafter für die Spekulation. Diese gehört zu den Phänomenen ohne gesellschaftlichen Nutzen wie Verbrechen und Laster, die einfach nur eingedämmt werden müssen. Eine Maßnahme, die dazu beitragen kann, die m. E. das Problem aber allein nicht löst, ist in jüngster Zeit zunehmend in den Blick der Politik geraten: die „Finanztransaktionssteuer”. Man fragt sich in der Tat: Warum wird bislang das Geschäft mit sog. FInanzprodukten nicht besteuert? Dabei sind diese im Unterschied zu allen anderen, irgendwie mehr oder weniger nützlichen materiellen oder informationellen Produkten, für nichts und niemanden von Nutzen außer für die, die andere damit im Interesse eigener leistungsloser Gewinne zu überlisten trachten (warum sonst begnügt man sich nicht mit klaren, sauber definierten Krediten und Aktien, sondern erfindet immer neue hochkomplex „strukturierte”, undurchschaubare „Finanzprodukte” mit ihren akrobatischen Namen, all die CDOs,, TAGs, SLABs, WAPS, CDSs?). Leider wird die „Finanztransaktionssteuer” bislang zumeist unter dem verengten Aspekt diskutiert, die spekulierenden Akteure der Finanzindustrie wenigstens partiell an den Kosten zu beteiligen, die sie verursachen und nicht allein den allgemeinen Steuerzahler in die Pflicht zu nehmen. So geht es also letztlich um eine zusätzliche Einnahmequelle für den Staat, eine legitime, mehr als berechtigte, überfällige, aber nichtsdestotrotz sehr verkürzte Betrachtungsweise und Zielsetzung. An den Gedanken, diesen ganzen aufgeblasenen unnützen und hochgefährlichen Spekulationswahnsinn durch eine entsprechend hohe Steuer ernsthaft zu treffen, wagt sich kein politisch „Verantwortlicher” heran. Selbst das Verbot von sog. Leerverkäufen, also von offenkundig rein spekulativen Finanztransaktionen, zu dem man sich unter dem Eindruck der Finanzkrise 2007/2008 durchgerungen hatte, wurde wieder aufgehoben. Die Macht der Finanzindustrie ist immens, und demokratisch gewählte Politiker ducken sich heute vor „den Märkten” wie einst in archaischen Zeiten Despoten vor „den Göttern”. Allenfalls redet man von einer gewissen Eindämmung der Spekulation. Denn es existiert anscheinend unausrottbar ein Konsens in Politik und Medien, dass die Spekulation, wenn sie nicht „übertrieben” wird, eine wichtige, ja notwendige Rolle in einer Marktwirtschaft spielt. Bis jetzt ist mir noch nirgendwo eine klare und überzeugende Aussage darüber begegnet, welche das eigentlich sein soll. Warum um alles in der Welt muss tagtäglich ein Vielfaches dessen global hin und her geschoben werden, was an Geldströmen zur Abwicklung der Warenströme der realen Wirtschaft und des Tourismus erforderlich ist?? Doch kaum jemand stellt diese Frage und drängt auf eine Antwort. Die Finanzindustrie hat unsere Gesellschaft über die Medien mental fest im Griff und lässt bestimmte Fragen gar nicht erst aufkommen. Hätte die Finanzindustrie klare Argumente für die gesellschaftsdienliche Funktion und Notwendigkeit der Spekulation, könnte sie doch angesichts der Skepsis, Kritik und Anfeindungen, vor allem der verbreiteten Angst vor dem Systemkollaps, in die Offensive gehen und müsste nicht mit dem kläglichen und eigentlich entlarvenden Lobbyistenargument kommen, dass sie hier die besten Standortbedingungen bräuchte, weil sonst an anderen Standorten womöglich bessere Bedingungen herrschten. Doch sollte man den Menschen nicht erst einmal klar sagen, welchen Nutzen sie von den Spekulationsspielen der Finanzindustrie überhaupt haben, bevor man von ihnen erwartet, dass sie sich Sorgen über Einbußen an Wettbewerbsfähigkeit des hiesigen „Spekulationsstandortes” machen und darüber bekümmert sind, dass möglicherweise eine Zahl von Börsenanalysten, Maklern, Brokern und anderen „Cityboys” arbeitslos werden oder sich davonmachen? Aber anstatt uns aufzuklären, versucht man uns Angst einzuflösen und zeigt uns Bilder von Bankentürmen in Shanghai oder Singapur, die höher sind als die von Frankfurt oder London.
In Bezug auf Zins und Spekulation sind die ins in Auge zu fassenden Maßnahmen („Liquiditätssteuer”, „Finanztransaktionssteuer”, Verbote gewisser Finanztransaktionen) ohne jeden Personenbezug und konzeptionell einfach; sie wären durch relativ geringe technisch-organisatorische Eingriffe zu realisieren. Hier ist allein die oben angesprochene Mentalität des leistungslosen Geldmachens das eigentlich Hindernis. Die Kräfte, die sich mit ihrer ganzen Macht gegen Veränderungen stemmen, sind auf der menschlich-defizitären Ebene angesiedelt und heißen rücksichtslose Profitgier, blinder Gruppenegoismus, kurzfristiges unsystemares Denken, Verdrängung von negativen „Nebenwirkungen”, Streben nach Prestige und Status usw.
Teufelskreise der Selbstvermehrung des Reichtums in der realen Wirtschaft
Mit einer Reform des Geld- und Finanzsystems und der Ausschaltung des zins- und des spekulationsbedingten Teufelskreises der leistungslosen Selbstvermehrung des Reichtums ist das Problem der wachsenden sozialen Kluft zwischen ARM und REICH leider noch nicht aus der Welt. Prozesse positiver Rückkopplung zwischen Einkommen und Vermögen gibt es auch in der Realwirtschaft und ganz allgemein im gesellschaftlichen Leben. Eine Schlüsselrolle spielt das Phänomen der Investition. Reiche haben mehr zu ihrer Verfügung, als sie für das Laufende brauchen; sie haben einen Vorrat, Vermögen genannt, den sie zur Verbesserung ihrer zukünftigen Situation investieren können. Das müssen nicht unbedingt ökonomische Investitionen sein; man kann auch in einen Rosengarten investieren, um sich in der Zukunft an seinem Duft und Anblick zu erfreuen. Nichtökonomische Investitionen waren im feudalistischen System durchaus verbreitet (man denke an die herrlichen Parkanlagen oder das Mäzenentum); im kapitalistischen System sind sie eher selten. Üblicherweise tätigen Reiche Investitionen, die (möglichst schnell) zu größerem Einkommen in der Zukunft führen, wodurch das Vermögen wächst, was größere Investitionen ermöglicht usw. usw.
Die ökonomische Investition ist der elementarste Mechanismus, den der Reiche zur Vermehrung seines Reichtums nutzen kann. In der Zinswirtschaft wird er sie nutzen, wenn sie ihm mindestens eine Rendite in der Höhe des durch Kreditvergabe erzielbaren Zinses bringt. Die Tatsache, dass es in der realen Welt immer wieder auch Fehlinvestitionen gibt, durch die der Reiche von seinem Reichtum einbüßt, ändert nichts an der Tendenz der Reichtumsvermehrung mittels Investitionen, durch die eine nach möglichst kurzer Zeit möglichst reichlich sprudelnde „Einkommensquelle”, geschaffen, erweitert, rationalisiert, gesichert sowie vor allem auf dem Markt günstig „positioniert” und „beworben” wird. Das sind in erster Linie „Produktionsstätten”, die irgendwelche materiellen oder informationellen Produkte erstellen, die möglichst viele zahlungsfähige Leute „haben wollen”, oder Zugänge zu bzw. Kontrolle über Handelsverbindungen, über die man in die Hand bekommt, was viele „haben wollen”. Aber auch Immobilien, Grundstücke, Mautstraßen, begehrte „Freizeitstätten”, Restaurants, Hotels, Nagelstudios, Werbeagenturen, „Geldinstitute”, Kliniken, Fernsehsender und vieles andere können „Einkommensquellen” sein, die regelmäßig mehr oder weniger zuverlässig Einkommen liefern. Sie heißen im Fachjargon „Assets”. Neben realwirtschaftlichen „Assets” gibt es heute eine unübersehbare und ständig wachsende Menge von abgeleiteten, abstrakten „Papierassets” der Finanzsphäre (s.o.), von den allgegenwärtigen Aktien bis hin zu obskuren „rehypothecated assets”, „collaterised debt obligations” , „credit default swaps” usw. Im Unterschied zu Ämtern, Posten, Arbeitsstellen usw. die ebenfalls ein Einkommen liefern, kann man sich die „Einkommensquellen”, von denen wir hier reden, mitsamt allem, was dazu gehört: Hardware, Anlagen und Geräte, Software, Genehmigungen, Lizenzen, Schürfrechte, Patente usw., sowie verkaufsfördernde Images mit Geld legal beschaffen. Damit wird Einkommen an Vermögen rückgekoppelt. Einkommensquellen hingegen, die nach Leistungs- oder Zufallsprinzip oder durch politische Prozeduren wie Wahlen zugeteilt werden, tragen nur ansatzweise Züge von positiver Rückkopplung (wie z.B. Karriereleitern oder der wachsende Erfolg des erfolgreichen Schriftstellers) und sind im Blick auf die alle Dimensionen sprengende Reichtumsanhäufung praktisch zu vernachlässigen.
Kaufbare „Einkommensquellen”, sind nicht nur wegen der direkten Einkommen begehrenswert, sondern auch – oft in höherem Maße – als Spekulationsobjekt begehrt (s.o.). Das Geld selbst ist heute aufgrund seiner Verleihbarkeit gegen Zins (s.o.) eine „Einkommensquelle” und aufgrund seiner Handelbarkeit in anderen Währungen auch ein Spekulationsobjekt.
Das konträre Gegenstück zum Vermögen, das die Investition ermöglicht, ist die andauernde Unmöglichkeit, sich ein und wenn auch nur bescheidenes Vermögen zu bilden. „Wir verdienen so wenig, dass wir nicht sparen können”, „wir kommen knapp über dir Runden; sparen können wir gar nichts” – so oder ähnlich lauten die Aussagen von Armen stereotyp in Reportagen über irgendein Land der Dritten Welt. Damit bleiben die Armen der Armut verhaftet. Wie z.B. sollen sie sich bessere Werkzeuge kaufen oder das Schulgeld für ihre Kinder aufbringen, wenn ihre täglichen Einnahmen gerade knapp reichen für das täglich notwendige Essen? Wer von der Hand in den Mund lebt, kann seine Lage nicht verbessern, weil er nichts hat, was er für eine bessere Zukunft investieren könnte.
Außerdem bedeutet Reichtum Sozialprestige und allein dadurch Macht, Einfluss auf Politik, Gesetzgebung usw. Reichtum öffnet Türen, ebnet den Weg in die höchsten Staatsämter. Das Amt, das der Reichtum (illegal) ermöglicht, ist ein Vehikel zu größerem Einkommen, womit wiederum der Reichtum größer wird, usw.usw. Hinzu kommen jenseits des Arsenals all der finsteren Möglichkeiten zur Einflussnahme, auf die der Reiche zurückgreifen kann (Ämter-, Stimmen- und Gutachtenkauf, Bestechung, Verleumdungskampagnen, Auftragsmord und andere Einschüchterung durch bezahlte Kriminelle usw.), grundlegende psychische Mechanismen: das Bewusstsein, reich zu sein, gibt sicheres Auftreten und Selbstbewusstsein, wichtige Voraussetzungen für Durchsetzung und Erfolg. In ökonomischen Kategorien ausgedrückt sind auch alle politischen Aktivitäten und Machtspiele zur Vermehrung des eigenen Reichtums letztlich Investitionen, zu der der Reiche und nur er alle Voraussetzungen besitzt. Reichtum wird durch die Investition expansiv. Würde der Reiche seinen Reichtum einfach nur genießen, wäre „alles halb so schlimm”.
Eine weitere Potenzierung kommt im heutigen System durch den Kredit ins Spiel. „Man verleiht nur an Reiche” lautet eine alte Volksweisheit. Wer aufgrund schon angehäuften Reichtums (vor allem in Form von Immobilien-Eigentum) Sicherheit für Kredite bietet, kann mittels Krediten noch größere Investitionen tätigen und auf diesem Wege noch schneller reich werden. Die für diese Kredite fälligen Zinsen bezahlen heute aber letzten Endes indirekt die normalen Verbraucher und Bürger (s.o. Der zweite Teufelskreis des Finanzmarktes). M. a. W.: Das mittels Kredit für den Reichen mögliche beschleunigte Reicherwerden geht zulasten der Allgemeinheit.
Die Selbstvermehrung des Reichtums durch immer erneute Investition des Reichtums in „Einkommensquellen” funktioniert als solche im Prinzip unabhängig von der Größe des Wirtschaftsraums. Unter den Bedingungen der Globalisierung und des „freien” Kapitalverkehrs wird sich Reichtum, hat er erst einmal eine gewisse Größe erreicht, in der ganzen Welt die renditeträchtigsten Orte für seine Investitionen auswählen. Damit gewinnt der Prozess der Reichtumskonzentration erst so richtig an Dynamik.
Anmerkung: Die Dynamik der Reichtumsbildung durch Investitionen ist nicht eo ipso negativ zu sehen. Zunächst mobilisiert die Möglichkeit, schnell und nachhaltig reich zu werden, die Kräfte, die Kreativität und den Fleiß und wird zu einer gewaltigen Triebfeder der ökonomischen Entwicklung. Läuft diese Dynamik jedoch ungebremst weiter und weiter, wird die Gesellschaft von ihr sozial und ökologisch in den Abgrund gerissen.
Was diese Potenz des Reichtums, sich mittels ökonomischer Investitionen fortdauernd zu vermehren, betrifft, so ist es schwierig, eine konzeptionell einleuchtende, widerspruchsfreie und marktgemäße Lösungsstrategie zu finden. Denn zur Investition gibt es keine Alternative, es sei denn eine Gesellschaft verzichtet ganz und gar auf Entfaltung und Fortschritt. Um hier den Teufelskreis der Reichtumskonzentration aufzubrechen, werden tiefer greifende Veränderungen unseres Systems wohl unvermeidlich sein. Es bedarf eines politischen Instruments, das das Privateigentum an „Einkommensquellen” nicht unterbindet, jedoch ab einer gewissen Grenze, die politisch zu bestimmen ist, erschwert. In einer Marktwirtschaft erscheint eine progressive Besteuerung des privaten Erwerbs an „Einkommensquellen” (kurz und verkürzt „Investitionsteuer” genannt) als die geeignete Lösung, eine Steuer, die es für eine Person ökonomisch unattraktiv macht, seinen Besitz an „Einkommensquellen” über die politisch festgelegte Grenze hinaus auszudehnen.
Der Marxismus hatte die„Abschaffung” des Privateigentums an Produktionsmittel propagiert. Das „sozialistische” Gesellschaftsexperiment, das auf diese Idee basierte, ist in der Realität nicht zufällig kläglich gescheitert. Denn mit dieser Abschaffung beraubte sich die Gesellschaft einer der entscheidenden Quellen von EFFIZIENZ und ADAPTIVITÄT: Vielfalt der Ideen, unternehmerische Findigkeit, Eigeninitiative, Selbstverantwortung, Experimentierfreude, schnelle, spontane Handlungsmöglichkeit, Zwang zur Fehlerkorrektur usw. Stattdessen dominierten Bürokratismus, ängstliches Warten auf Anweisungen von „oben”, „social loafing”, Verantwortungsdiffusion.
Die Idee, den Privatbesitz an „Einkommensquellen” pro Person zu begrenzen, erweckt vor dem Hintergrund dieser historischen Erfahrung verständlicherweise Skepsis und blockiert bei vielen eine ernsthafte Prüfung der Idee. Für die heute herrschende liberalistische Ideologie ist ohnehin alles klar. Aus ihrem Blickwinkel droht hier ein Generalangriff auf die individuelle Freiheit. Doch der Liberalismus hat zwei blinde Flecken. Er ist nicht nur notorisch blind gegenüber den Schäden, die eine ungezügelte Freiheit anrichtet, sondern auch beschränkt in der Wahrnehmung des fruchtbaren Potentials, das in der Freiheit steckt, wenn sie vernünftig eingebunden wird in ein Ensemble aller Werte und sich symbiotisch vor allem mit Gerechtigkeit „verbündet”. Es geht an die Schmerzgrenze der Vernunft, wenn man erleben muss, wie die Ideologen aus dem liberalistischen Lager jeden verzweifelten Versuch eines Landes, sich gegen die Verheerungen des „freien” Weltmarktes[8] zu schützen, als “Protektionismus” diffamieren und das Bemühen eines Staates um einen sozIalverträglicheren Rahmen für den Markt als „Dirigismus”. Das positive Potential dieser Ansätze soll gar nicht erst als diskussionswürdig erscheinen. Auch die quantitative Begrenzung privater Verfügung über „Einkommensquellen” hätte entscheidende „positive Nebenwirkungen”: In der Gesellschaft kommt es zu einer breiteren Streuung des Eigentums an Produktionsmitteln bzw. „Einkommensquellen” im weiteren Sinne, und das bedeutet mehr Chancengleichheit, höhere Vielfalt der Strukturen, der Strategien , der Lösungsideen für die Zukunft und eine breitere Nutzung der in der Gesellschaft existierenden Kreativität, Findigkeit, Leistungs- und Verantwortungsbereitschaft. „Begrenzung ” ist also nicht eine Art Vorstufe zur „Abschaffung”, im Gegenteil: „Begrenzung” entfaltet das positive Potential des “Privaten” maximal. (Diese Aussage ist auf keinen Fall mit einem Plädoyer für die Privatisierung öffentlicher Aufgaben wie Wasserversorgung, Bildung, Gesundheit, innere Sicherheit usw. zu verwechseln).
Zusammenfassend kann man sagen: Wie die „Gebühr auf Liquidität” als Antwort auf das Zinsunwesen und Maßnahmen gegen die Spekulation (Besteuerung von Finanztransaktionen, Verbot von offenkundig rein spekulativen Transaktionen), so ist auch die Idee einer „Begrenzung” der privaten Verfügung über “Einkommensquellen”, ohne die nicht zu verhindern ist, dass sich der Reichtum in immer weniger Händen konzentriert, hochgradig kompatibel mit der marktwirtschaftlichen Ordnung, mehr noch: sie bringt die Vorzüge dieser Ordnung für das Gemeinwesen erst voll zur Entfaltung.
Ein anderer Punkt ist die konkrete Umsetzung dieser Idee durch Einführung einer progressiven „Investitionssteuer”. Hier sind beträchtliche methodische Schwierigkeiten zu überwinden, um sicherzustellen, dass eine solche Steuer die problematische Reichtumskonzentration wirksam begrenzt und zugleich unbürokratisch und gerecht ist und potentielle Investoren nicht generell abschreckt.
Für die Konzipierung einer solchen Steuer ist es sinnvoll, zwischen „anlegendem” und „unternehmerischem” Investor zu unterscheiden. Der „anlegende Investor” ist im Prinzip ein „Aufkäufer” von „Einkommensquellen”. Er bringt nichts als Geld ein und erwartet, dass er seinen Einsatz vermehrt um einen Zugewinn zurückbekommt. Der „unternehmerische Investor” hingegen bringt außer Geld seine Fähigkeiten, Initiative, Ideen, Zeit und Arbeitskraft ein.
Reden wir zunächst nur vom „anlegenden Investor”. Hier scheint die Begrenzung des Erwerbs von „Einkommensquellen” unzweifelhaft im gesellschaftlichen Interesse zu sein. Was sollte der Allgemeinheit daran liegen, dass einzelne Reiche kraft ihres Reichtums immer mehr „ Einkommensquellen” durch Aufkauf an sich ziehen und dadurch ihr Vermögen weiter und weiter vermehren?
Die steuerliche Realisierung der Begrenzung ist hier methodisch kein Problem, sofern man ein geeignetes Maß hat, an dem man den Wert einer „Einkommensquelle” bemisst. Und als ein solches Maß bietet sich der Marktpreis bzw. Verkehrswert an. Erwirbt eine Privatperson eine „Einkommensquelle”, so wird dieser Kauf mit einer umso höheren Steuer belastet, je näher sie mit diesem Kauf an die Obergrenze des für eine Privatperson zulässigen Gesamteigentums heranrückt. Was die Definition der Obergrenze angeht, so ist etwa folgende Vorgehensweise denkbar. Man betrachtet den geldlichen Gesamtwert aller innerhalb einer bestimmten Zeitspanne, z.B. eines Jahres gehandelten bzw. zu erwerbenden „Einkommensquellen”. Teilt man diese Summe durch die Zahl der Bürger des Landes, so gewinnt man einen Durchschnittswert: die Menge, die zu erwerben jedem Bürger des Landes innerhalb eines Jahres „zusteht”. Die politische Festlegung der Obergrenze könnte dann so lauten: Niemand darf innerhalb eines Jahres z.B. mehr als das 10fache oder 100fache oder 1000fache der Durchschnittsmenge an „Einkommensquellen” erwerben.
Die Steuer, die das bewirken soll, indem sie den Erwerb von „Einkommensquellen” über eine politisch zu bestimmende Grenze hinaus ökonomisch unattraktiv macht, kommt logischerweise nicht ohne Personenbezug aus. Allein hier gibt es also eine Registratur (eine Art weiterentwickeltes Gewerbeamt), die für jeden festhält, welche Menge (in Geld ausgedrückt) er bereits davon erworben und als Eigentum hat. Je näher er mit einem weiteren Kauf z. B. einer Produktionsstätte, Immobilie oder Windkraftanlage oder davon abgeleiteter Rendite bringender Papiere wie Aktien der vorgesehenen Obergrenze kommt, desto höher wird die Steuer, mit der dieser Kauf belastet wird. Sie muss so hoch sein, dass der „Preis” für die weitere Vergrößerung eines schon großen Besitzes an „Einkommensquellen” angesichts des Risikos, das jede Investition bedeutet, zu hoch erscheint, um das Risiko einzugehen. Der durch diese Steuer entstehende neue Kontrollaufwand ist von vornherein geringer, überschaubarer als bei der heutigen progressiven Besteuerung der Einkommen. Denn die potentielle Zahl der Personen, die überhaupt „Einkommensquellen” erwerben, ist klein und solche Käufe sind eher selten. Und noch kleiner ist logischerweise die Zahl derer, bei denen eine genaue und aufwändige Kontrolle relevant wird, d.h. bei denen aufgrund ihres schon großen Besitzes an „Einkommensquellen” die Gefahr besteht, dass sie weitere über die Obergrenze hinaus erwerben. (Wir hätten hier wohl zum ersten Mal in der Geschichte ein Steuersystem, bei dem die “Kontrollwut” des Staates nicht an den „kleinen Leuten” ausgelassen wird, sondern endlich einmal die „großen ” stärker unter die Lupe genommen würden).
Wenden wir uns nun dem „unternehmerischen Investor” zu. Hier ist die „Begrenzung” nicht so unmittelbar einleuchtend und fraglos wie beim „anlegenden Investor”. Liegt es nicht im gesellschaftlichen Interesse, dass der „gute”, fähige, kreative Unternehmer sein Unternehmen vergrößert? Natürlich, doch Wachstum steht hier gar nicht zur Disposition, sondern allein die Unbegrenztheit des Wachstums (wie bei jeder qualifizierten Wachstumskritik). Es kann doch nicht im gesellschaftlichen Interesse sein, dass ein Unternehmen größer und immer größer wird, bis es in den Rahmen des Marktes nicht mehr passt und zum Imperium wird, das den Markt und die Gesellschaft beherrscht. Doch da beginnt das konzeptionelle Grundproblem mit der Frage: wie groß ist groß genug und ab welcher Größe ist sie zu groß?
Auch in methodischer Hinsicht wird eine Besteuerung des „unternehmerischen Investors” schwierig. Denn dieser kauft nicht einfach ganze, schon existierende „Einkommensquellen”, sondern er schafft sie, baut sie auf, erweitert, vergrößert, verbessert sie.
Hier müsste ein Verfahren gefunden werden, mit Hilfe dessen einigermaßen „objektiv” abgeschätzt werden kann, um welchen Betrag sich der (Verkehrs-)Wert einer im Besitz einer Privatperson befindlichen „Einkommensquelle” erhöht , wenn in sie Geld zu ihrer „Aufwertung” von der Person investiert wird. Diese Investition könnte dann nach den gleichen Kriterien besteuert werden wie ein Neuerwerb einer weiteren „Einkommensquelle” durch diese Person. Eine weitere zu klärende Frage ist, ob nicht das Besteuerungsverfahren sinnvollerweise zwischen Erweiterungsinvestitionen und Investitionen zur Erhöhung der energetischen Effizienz oder zur Reduzierung von Umweltbelastung und Transport oder auch zur Verbesserung der Arbeitsqualität unterscheiden sollte und wie diese Unterscheidung möglichst unaufwändig praktisch umzusetzen ist. Es stellt sich zudem grundsätzlich die Frage, ob eine eindimensionale und vom Marktumfeld unabhängige Orientierung der Besteuerung an der (in Geldeinheiten ausdrückbaren) Größe des Unternehmens ausreichend ist, um das Gewinnemachen zu begrenzen. Müsste nicht das Verfahren den ganzen kartellrechtlichen Komplex berücksichtigen und gegensteuern, wenn die Gefahr droht, dass durch bestimmte Investitionen von einzelnen Unternehmen der Wettbewerb ausgeschaltet wird und übermäßige Gewinne eingefahren werden können? Zu diesem kritischen Komplex gehört auch die Hinterfragung des Patentrechts. Kann es im gesellschaftlichen Interesse sein, wenn durch Patente Konkurrenz mit juristischen Mitteln ausgeschaltet und vielfach technischer Fortschritt und Entwicklung, die das Patentrecht der Idee nach fördern soll, de facto behindert wird, nur damit für lange Zeit Gewinne bei den Patentinhabern anfallen, die in keinem Verhältnis mehr zur Leistung stehen, die zu dem Patent geführt hat? Könnte nicht unternehmerische Forschung und Entwicklung auch auf ganz andere Weise und ohne diese negativen Nebenwirkungen gefördert werden? Ich kann diesen Fragen hier im Rahmen meines Überblicks über die Ursachen der Reichtumskonzentration nicht weiter nachgehen. Ich habe sie nur angeführt, um anzudeuten, dass ich mir bewusst bin, dass hinsichtlich einer vernünftigen, zielführenden „Investitionssteuer” noch viel Klärungsbedarf besteht.
Zur Idee, die Anhäufung von „Einkommensquellen” in einer privaten Hand (durch progressive Besteuerung) zu erschweren, gehört als „Gegenstück”, das Gewinnmachen (durch Wegfall der Besteuerung des Gewinns) zu erleichtern.
So ergäbe sich hier ein zum heute existierenden konträres Prinzip. Während heute der Gewinn besteuert wird und die Investition absetzbar ist, bliebe im neuen System der Gewinn unversteuert und die Investition würde (gestaffelt) besteuert. Damit würden die „besten Wirte” gefördert, die es verstehen, aus ihren begrenzten “Einkommensquellen” am meisten herauszuholen, und nicht die Reichen, die ihren Besitz an „Einkommensquellen” immer mehr ausdehnen. Nicht nur für unsere Gesellschaft, sondern auch für die sog. Entwicklungsländer wäre es gut, wenn die Entwicklung von einer möglichst breiten Entfaltung der vorhandenen Kräfte und Fähigkeiten und nicht von der sich überschlagenden Investitionstätigkeit einer schnell reich werdenden Minderheit getragen würde.
Die Umkehrung der Besteuerungsphilosopie bedeutet einen tiefen Eingriff in das System mit weit reichenden Folgen für Art und Richtung der Entwicklung: Das gegenwärtige Steuersystem bremst nicht nur nicht die Investition derer, die schon viel an „Einkommensquellen” besitzen, sondern fördert sie durch die Absetzbarkeit. Der Effekt ist gewollt. Er liegt ganz auf der Linie des übergeordneten Ziels: Wirtschaftswachstum. Der Nebeneffekt: selbst wenn groß und klein gleich schnell wachsen, erlangen die Großen einen immer größeren Marktanteil. Die Polarität wird größer, was wiederum den Ruf nach Wachstum verstärkt. Je weiter das Wachstum voranschreitet, desto dringender braucht man, um den sozialen Frieden zu erhalten, Wachstum. Eine aussichtslose Gefangenschaft in einem Teufelskreis.
Die Besteuerung der Erweiterungsinvestition gestaffelt nach der Größe der bereits getätigten Investitionen bzw. des Gesamtverkehrswertes der „Einkommensquellen”, die man besitzt, gibt dem Wachstum der Kleineren, deren Investitionen gering oder gar nicht besteuert werden, einen relativen Vorteil gegenüber den Großen, deren Wachstum durch die Steuer gebremst wird. Ziel: Abbau der Polarität und Erhöhung der Vielfalt in Wirtschaft und Gesellschaft. Die Frage ist, ob damit nicht das Wachstum der Wirtschaft in der Summe gebremst wird. Gegenfrage: Ist das nicht genau das, was wir im Interesse unsere Zunkunftsfähigkeit erreichen müssen? Brauchen wir nicht eine insgesamt verstetigte, weniger hektische Entwicklung? Ist nicht die Anpassung der Geschwindigkeit von gesellschaftlichen Veränderungen, die heute durch die Dynamik einer zügellosen Wirtschaft heillos angetrieben immer größer wird, an die Zeitparameter des sozialen Lernens, des Aufbaus funktionsfähiger gesellschaftlicher Institutionen, der natürlichen Kreisläufe und der ökologischen Regeneration heute das Gebot der Stunde? Ansonsten bleiben für die kurzfristig in immer schnellerer Folge entstehenden „Werte” der ökonomischen „Wertschöpfung” viel wertvollere, weil kurzfristig bestimmt nicht und wahrscheinlich niemals ersetzbare ökologische, soziale und kulturelle Werte auf der Rennstrecke. Wenn wir wirklichen Fortschritt wollen, dann müssen wir die Grundbedingungen evolutionärer Höherentwicklung einhalten, die der Astrophysiker Peter Kafka mit der wunderbaren Formel „Vielfalt und Gemächlichkeit” ausdrückt.
Sind die hier dargelegten politischen Instrumente hinreichend, um der wachsenden sozialen Polarität wirksam zu begegnen?
Angenommen, es gelänge, die Teufelskreise der leistungslosen Selbstvermehrung des Reichtums auszuschalten. Doch wie geht es weiter? Werden die Reichen dann Reichtum, dem der Weg zu seiner endlosen Selbstvermehrung politisch versperrt oder zumindest erschwert wurde, einfach in ungehemmtem Luxus „verleben”? Wenn das auch bei vielen weniger Reichen wahrscheinlich die Gefühle des Neides und der Empörung über die Reichen verstärken würde, so wäre es doch genau das Beste, was passieren könnte. Denn luxuriöses Genießen von Reichtum bedeutete nicht nur das Ende der Konzentration, sondern der Anfang der Dekonzentration des Reichtums. Doch tritt dieser gesellschaftlich wünschenswerte Effekt, die breitere Streuung von Reichtum, tatsächlich ein? Verbleiben den Reichen nicht Schlupflöcher, um diesem für sie unliebsamen Prozess auszuweichen und möglichst lange ihren Reichtum zu erhalten? Wird es nicht vor allem zu einer großen Flucht in verschiedene „Sachwerte” kommen? Interessant für diesen Zweck sind solche Sachwerte, die sich als kostenloser „Wertspeicher” eignen (dem Geld war diese Eigenschaft mittels der Standgebühr auf gehortetes Geld ja genommen worden; s.o.), d.h. Sachwerte, denen der „Zahn der Zeit” wenig anhaben kann, die kaum Lagerkosten verursachen und wegen hoher „Wertdichte” wenig Raum beanspruchen und (was besonders in unsicheren Zeiten relevant ist) leicht zu verstecken und zu transportieren sind (typische Beispiele sind Gold, Diamanten u.ä.). Noch attraktiver ist es, Reichtum in solchen Werten zu speichern, die natürlicherweise mit der Zeit immer knapper werden und an Wert zulegen. Das sind Dinge, die praktisch nicht vermehrt werden können wie Rohstoffe und Grund und Boden, oder wie alte Kunstwerke, Antiquitäten, Briefmarken, Münzen und andere Sammlerobjekte. Was die letzteren Dinge angeht, so mag man es hinnehmen, dass diese seltenen Liebhaberstücke noch vollständiger in den Besitz der besonders Reichen gelangen, als es heute ohnehin schon der Fall ist. Denn mit ihrem Besitz ist keine Macht über die Gesellschaft verbunden. Völlig anders ist es bei Rohstoffen und Grund und Boden. Hier handelt es sich um Ressourcen, die die Gesellschaft für ihre Erhaltung und Entfaltung unbedingt braucht und über die sie möglichst frei und gerecht verfügen können muss, wenn sie ihre Lebens- und Entwicklungsfähigkeit nicht einbüßen will. Schon heute ist es nicht hinzunehmen, dass sich eine Minderheit von Reichen (noch mehr) Macht über die Gesellschaft verschafft, indem sie diese knappen und mit hoher Wahrscheinlichkeit knapper werdenden Ressourcen in ihren Besitz bringt. Dieser Aneignungsprozess würde einen gewaltigen Schub erfahren, wenn die heute existierenden üblichen Selbstvermehrungsmechanismen des Reichtums ausfielen. Grund und Boden würde so teuer, dass kein „normaler Sterblicher” sich mehr seinen Erwerb und Besitz leisten kann. Es käme zu einer regelrechten Refeudalisierung: Grundbesitz als Privileg und Machtbasis einer verschwindend kleinen Minderheit. Der Bodenmarkt käme praktisch zum Erliegen. Die Wahrnehmung vieler öffentlicher Aufgaben würde wesentlich erschwert. Aus diesem Grunde kann eine Geldreform, die die Zinswirtschaft zu überwinden sucht, vernünftigerweise nur im Verbund mit einer neuen Bodenordnung gedacht werden, die das Privateigentum an Grund und Boden durch die private Nutzung von Grund und Boden auf der Grundlage von Pacht und Erbpacht ersetzt[9]. An die Stelle des privaten Bodeneigentums muss generell das Eigentum der Gemeinschaft (Gemeinde, Stadt oder Land und zukünftig der Menschheit) treten. So wie Grund und Boden schlechterdings nicht vom Menschen geschaffen und vermehrt werden kann, so auch nicht die Bodenschätze, die die Menschheit zum Wirtschaften braucht. Die Aneignung der Bodenschätze, die der Menschheit insgesamt als „unverdientes Geschenk der Natur” zugefallen sind, durch reiche Minderheiten ist ein Unding wie das Privateigentum an Grund und Boden, das auf die Dauer nicht mit sozialem Frieden verträglich ist. Die nationale Aneignung der (knapper werdenden) Bodenschätze, die heute noch als völlig selbstverständlich erscheint, gefährdet zunehmend das friedliche Zusammenleben der Völker. Verteilungskämpfe um die Zugänge zu den natürlichen Ressourcen, die eigentlich allen gehören sollten, machen heute neue Weltkriege wahrscheinlich. Wenn die Weltgemeinschaft der Katastrophe entgehen will, muss sie ein gerechtes Verteilungssystem für die Weltbodenschätze organisieren. Längst reifen in den Köpfen von Außenseitern dazu innovative Ideen und Modelle, die heute noch als völlig utopisch erscheinen: die Vereinten Nationen übernehmen die Kontrolle über den Weltrohstoffmarkt. Alle auf diesem Markt durch Rohstoffverkauf erzielten Einnahmen werden in einen „Weltrohstofffond” eingezahlt. Dieses Geld wird nach Maßgabe der jeweiligen Bevölkerungszahlen an die Länder verteilt. Dieses hochinteressante Zukunftsmodell soll hier nicht weiter vertieft werden. Festzuhalten ist aber für unser Thema hier: ohne eine politische Strategie gegen die private und andere Formen der partikulären Aneignung unvermehrbarer, natürlicher Ressourcen der Menschheit wird es keine nachhaltige Lösung für das friedensgefährdende Problem der wachsenden sozialen Kluft in der Welt geben.
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Wir haben uns hier mit Instrumenten befasst, die die fortlaufende Konzentration des Reichtums stoppen sollen. Das ist die eine große, die „soziale Herausforderung”, vor der die Menschheit heute steht; die andere, die mit dieser verflochten ist, ist die „ökologische Herausforderung”. Sie erfordert zusätzliche Instrumente. Das gilt speziell für die Investitionstätigkeit. Eine „Investitionssteuer” die sich aus sozialen Gründen gegen die Konzentration der Investitionstätigkeit in wenigen großen Händen richtet, kann insofern nicht alles sein. Aus ökologischen Gründen sind die Investitionen insgesamt inhaltlich neu auszurichten. Angesichts der heutigen Problemlage muss die herrschende Wachstumsorientierung bei den Investitionen zugunsten einer Effizienzorientierung gebrochen werden. Investitionen, die nur der Erhöhung des materiellen Lebensstandards dienen und den Markt mit immer mehr (größtenteils überflüssigen) Produkten überschütten, werden immer widersinniger, Investitionen zur Erhöhung der Energieeffizienz oder zur Reduzierung von schädlichen Belastungen von Mensch und Umwelt immer wichtiger.
Wie ein Steuersystem aussehen könnte, das die Investitionen in eine ökologischere Richtung lenkt, habe ich in: „Steuersystemwechsel – Plädoyer für eine ganz andere Art und Weise, wie der Staat zu seinen Einnahmen kommt” (www.meller-reissmann.de Kategorie „Gegenentwürfe”) skizziert.
[1] 1972 erschien das vielzitierte Buch von Meadows u.a. „Die Grenzen des Wachstums”, eine Studie im Auftrag des Club of Rome.
[2] Vgl. zum Zinsproblem vor allem die grundlegenden Arbeiten von Helmut Creutz: „Das Geldsyndrom” und „Die 29 Fehler rund ums Geld”.
[3] Vgl. „Über den Geldfehler und seine Korrektur. Eine knappe Einführung in das Zinsproblem und seine Lösung” www.mueller-reissmann.de Kategorie „Geldreform”.
[4] Vgl. hierzu meine detaillierten Berechnungen zur Umverteilung durch den Zins in „Das Geld und die Frage der gerechten Verteilung” www.mueller-reissmann.de Kategorie „Geldreform”.
[5] vgl. „Die organisierte Spekulation” www.mueller-reissmann.de Kategorie „Kritische Systembetrachtungen”.
[6] Wir werden gegenwärtig zu Zeugen dieser verzweifelten Versuche der Politik. Und wenn uns dabei irgendetwas klar wird, dann, dass weder die Politiker noch die Experten genau wissen, was zu tun ist. Es entbehrt nicht einer gewissen Tragikomik, wenn die einen Experten als rettenden richtigen Schritt begrüßen, was die anderen als Weg in die Verschärfung der Krise verreißen. So soll z.B. der „Zinsdruck”, der auf den angeschlagenen „Südländern” der Eurozone lastet, dadurch reduziert werden, dass die EZB Milliardensummen den Geschäftsbanken zu fast Nullzinsen zur Verfügung stellt, damit sie Staatsobligationen der Krisenländer aufkaufen, oder dass die EZB gleich selbst solche Papiere aufkauft. Das mag zwar für kurze Zeit die „Anleger” und Spekulanten „beruhigen”, so dass sie Kredite zu etwas niedrigeren Zinsen geben. Doch der „Nebeneffekt” ist doppelt prekär: nun sind (erstens) nicht mehr irgendwelche Reiche rund um den Globus die Gläubiger der Krisenländer, sondern europäische Banken bzw. die Zentralbank selbst. Wagen die Politiker schon nicht, die teilweise Enteignung reicher Anleger als Ausweg aus der Schuldenkrise anzuvisieren, so ist der Gedanke, „systemrelevante” Banken mit großen Verlusten allein zu lassen, gänzlich undenkbar. So ist die Weiche in Richtung der Lösung, die Schulden auf alle umzulegen, ein Stück fester gezurrt. Außerdem wird (zweitens) durch die so billige Herausgabe riesiger Euromengen ein Inflationspotential aufgebaut. Das eine wie das andere bedeutet, die Zeichen stehen auf Inflation: Die breite Mehrheit wird mit ihren Ersparnissen dafür einstehen müssen, dass reiche Spekulanten nicht zu viel ihres Spieleinsatzes einbüßen.
[7] vgl.Kahnemann/Tverski: „Prospect Theory: An Analysis of Decisions under Risk”. Econometrica 47(2), März 1979 S.273
[8] Ein Agrarexperte, der sich viele Jahre in Afrika beim Aufbau einer nachhaltigen Landwirtschaft engagierte, nannte den Weltmarkt die „große dämonische Realität, die auf allem lastet”.
[9] Vgl. „ Gemeineigentum an Grund und Boden” www.mueller-reissmann.de