Ein eigentlich übeflüssiger Nachtrag zur “Kreditschöpfungstheorie”
28. April 2010 von Friedrich Müller-Reißmann
Friedrich Müller-Reißmann April 2010
Mancher Leser meines Artikels „Wie ich vom Bann der ‚Kreditschöpfungstheorie’ loskam”[1] mag einen Hinweis auf die sog. „multiple Kreditschöpfung” und die „Giralgeldschöpfung” nach Bernd Senf vermissen. Aus meiner Sicht sind sie in Bezug auf die Grundfrage „Kreditschöpfung der Banken aus dem Nichts – Gibt es so etwas, ja oder nein?” nicht der Rede wert. Interessant sind sie eigentlich nur als Lehrbeispiele dafür, wie man Verwirrung stiften und den um Klärung Bemühten fast um seinen Verstand bringen kann.
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Was die sog. „multiple Kreditschöpfung” betrifft, so segelt diese unter falscher Flagge. Bei Lichte besehen wird hier gar keine „Kreditschöpfung” der Banken „aus dem Nichts” behauptet, sondern lediglich die normale, alltägliche, unbestrittene Bankpraxis der (wiederholten) Kreditvergabe aufgrund von (wiederholten) Einlagen dargestellt, und nur durch die verfremdete Form der Darstellung, die von der Zeit bzw. der realen Geschwindigkeiten der Zu- und Abgänge abstrahiert und die Sache durch Einbeziehung der Reserve ein wenig verkompliziert, entsteht die Suggestion von einer „kreditschöpfenden Potenz” der Banken.
Die Theorie der „multiplen Kreditschöpfung” behauptet wie gesagt nicht, GBen könnten Kredite ohne Einlagen vergeben, sondern ‚nur’, sie könnten mit einer Einlage, also einer Menge Geld, nennen wir sie x, mehrfach nacheinander Kredite vergeben, also insgesamt ein Mehrfaches an Kaufkraft ins System bringen, als der ursprünglichen Einlage entspricht. Von daher die Charakterisierung „multiple Kredit- oder Geldschöpfung”. Üblicherweise wird im Modell dieser „Schöpfungstheorie” noch die notwendige Reserve (Reservefaktor r, z.B. 0,1) berücksichtigt, die bei jeder erneuten Kreditvergabe abgezogen werden muss. Von der Einlage x können nur x(1-r) als Kredit vergeben werden, und wenn diese Summe wieder als Einlage eingezahlt wird, können x(1-r)2 als Kredit vergeben usw., so dass die Kredite, die nacheinander ausgegeben werden können, immer kleiner werden. Bei Berücksichtigung der Reserve ist die im Endeffekt ausgegebene Summe der Kredite nur ein endliches Vielfaches der Ersteinlage, abstrahiert man von der Reserve, läuft die Kreditsumme gegen Unendlich. Durch die Berücksichtigung der Reserve bekommt das Ganze einen realistischeren Anstrich, während die Vorstellung einer unendlichen Vermehrung von vornherein Zweifel wecken würde. So oder so: ein hartnäckig kritischer Blick auf dieses „Geldschöpfungsmodell” entlarvt es als Täuschung. Es setzt natürlich voraus, dass das Geld, um es erneut als Kredit ausgeben zu können, von einem Dritten zuvor wieder bei der Bank eingezahlt wurde (und zwar nicht nur eingezahlt zur Begleichung einer Forderung eines Geschäftspartners, sondern als echte Einlage, d.h. als Ersparnis!). Das heißt, der Summe der Kredite steht eine gleichgroße (wenn von der Reserve abstrahiert wird) oder (wenn die Reserve berücksichtigt wird) eine größere Summe an Einlagen gegenüber. Helmut Creutz[2] hat dargelegt, dass ein solcher Vorgang absolut nichts mit einer Vermehrung der Geldmenge zu tun hat, die gleiche Menge x wird lediglich mit jeder Kreditvergabe erneut (ganz oder um die Reserve reduziert) eingesetzt. Die „multiple Kreditschöpfung” beschreibt in einer künstlich verfremdeten Form einfach nur das, was GBen tun, was sie können und wozu sie da sind: Einlagen in Kredite zu verwandeln, um Geld in Umlauf zu halten und damit einen entscheidenden Beitrag zur Verstetigung der Geldumlaufs zu leisten. Diese normale Bankpraxis zur „Geldschöpfung” zu machen, ist wirklich grober Unfug.
So sollte man das Thema zu den Akten legen, besser: gleich dem Reißwolf übergeben. Leider bleibt die Frage, warum das nicht längst geschehen ist. Was hält die Suggestion einer „Geldschöpfung” hier so hartnäckig am Leben? Für die Beantwortung dieser Frage hat Gero Jenner den entscheidenden Hinweis gegeben.[3] Das Schema der „multiplen Kreditschöpfung” abstrahiert von der realen Zeit, in der die angesprochenen Vorgänge stattfinden. Es wird nicht danach gefragt, ob und wann das als Kredit in die Wirtschaft entlassene Geld über eine erneute Ersparniseinlage an die GB zurückkehrt. Es wird auf der Kreditseite das Bild einer ständig wiederholten Kreditvergabe ins Blickfeld gerückt, während auf der Einlagenseite ein blinder Fleck bleibt. So entsteht suggestiv die Vorstellung einer von der Realität losgelösten Potenz der GB, Kredite in schneller Abfolge zu erzeugen, und mit ihr das Bild einer absoluten Kaufkraftvermehrung, also letztendlich von so etwas wie „Geldschöpfung”. In Wahrheit kann eine GB Kredite auch nur mit der Geschwindigkeit vergeben, mit der aus der realen Wirtschaft Kaufkraft herausgenommen, also gespart, und ihr das Ersparte zur Verfügung gestellt wird.
Die „multiple Kreditschöpfung” gehört nicht in ein Lehrbuch oder eine wissenschaftliche Abhandlung, sondern in ein geistiges Kuriositätenkabinett, ähnlich wie die von Zenon gelieferte „Begründung” dafür, dass Achill die Schildkröte nicht überholen kann. Obwohl jedermann hier weiß, dass an der so logisch anmutenden Darstellung etwas faul sein muss, da Achill die Schildkröte natürlich überholen kann, ist mir kaum jemand begegnet, der den Trick, mit dem Xenon die Illusion erzeugt, glasklar auf den Punkt bringen konnte.[4] Beiden ist gemeinsam, dass der Zeitfaktor geschickt manipuliert bzw. versteckt wird. Während Xenon etwas „beweist”, von dem jedermann aus seiner Lebenspraxis weiß, dass es falsch ist, „beweist” das Schema der „multiplen Kreditschöpfung” etwas in einem Bereich, in dem kaum jemand klare und eindeutige Erfahrungen aus seiner Lebenspraxis hat. Man ist also hier nicht unmittelbar herausgefordert, nach dem Trick zu suchen. Von daher ist es vielleicht nicht so verwunderlich, dass die Irreführung funktioniert und sich so viele Geister damit so lange beschäftigen konnten.
Es sei noch einmal betont, dass nicht einfach eine Einzahlung oder Überweisung auf ein Girokonto einer GB eine „Einlage” darstellt, die der GB als Kreditbasis zur Verfügung steht. Eine „Einlage” ist eine der GB auf Zeit überlassene Geldmenge („Termineinlage”), d.h. eine für eine gewisse Zeit nicht genutzte Kaufkraft. An dieser Stelle erwarte ich den Einwand, dass GBen nicht nur das ihnen bewusst für eine bestimmte Zeit überlassene Geld für Kredite nutzen, sondern auch das Geld auf den Girokonten ihrer Kunden, also das der GB gewissermaßen als Nebeneffekt des normalen Geschäftsverkehr auf Giralgeldbasis überlassene Geld. Das ist richtig, doch wenn man hier sauber zwischen Fluß- und Bestandsgrößen unterscheidet, also den Zeitfaktor berücksichtigt, ergibt sich auch hier nicht eine Fußbreit Spielraum für „Kreditschöpfung der GBen”.
Ich komme damit zur „Giralgeldschöpfung” nach Bernd Senf.[5] Hier wird tatsächlich und ernsthaft die „Kreditschöpfung aus dem Nichts” behauptet. Verwandt ist sie mit der „multiplen Kreditschöpfung” nur insofern, als hier ebenfalls mit der Nebelkerze „Reserve” gearbeitet wird. Es wäre aber nicht treffend, sie als eine Variante oder Spielart der „Kreditschöpfung” aufzufassen, sie wiederholt nur die bekannte „Kreditschöpfungstheorie” mit einem zusätzlichen Schnörkel, der ihr angeblich eine begrenzende Bedingung auferlegt (eine gewisse Menge an vorgehaltener Reserve) und damit unproblematischer erscheinen lässt.
Nun besteht überhaupt kein Zweifel, dass GBen heute die Giralgeldkonten zwischenzeitlich für Kredite an andere Kunden nutzen können und dies auch tun und damit besonders gute Profite machen. Diese Kreditvergabe ist aber keine „Schöpfung” und bewegt sich ganz im Rahmen dessen, was Banken ihrer Bestimmung gemäß tun. Hier geht alles mit rechten Dingen zu. Es bedarf an keiner Stelle einer „creatio ex nihilo” als Erklärungshypothese.
Dass GBen Geld, das auf Girokonten eingelegt ist, teilweise zur (teilweise auch längerfristigen) Kreditvergabe nutzen können, obwohl doch Geld auf Girokonten jederzeit abgehoben werden kann, beruht auf folgendem Sachverhalt. Es fließen zwar über die Zeit alle Einlagen der Sichtguthaben ab, aber gleichzeitig auch immer wieder Geld zu, d.h. das Integral der Zuflüsse ist über eine gewisse Zeit gleich dem Integral der Abflüsse. Da aber die Guthaben eine durchschnittliche Verweilzeit im „Speicher” haben, ist dieser immer bis zu einer gewissen Höhe gefüllt (die Höhe schwankt in Abhängigkeit von der jeweils aktuellen Abweichung zwischen Zufluss und Abfluss). Abstrahiert man von den aktuellen Unterschieden zwischen Zufluss und Abfluss, so errechnet sich die Höhe der Speicherbelegung (=Summe der vorhandenen Sichtguthaben) als Produkt des Zuflusses (oder Abflusses) pro Zeiteinheit und der durchschnittlichen Verweildauer. Wenn z.B. pro Stunde 5000 € zufließen und diese durchschnittlich 24 h verweilen, wäre der „Speicher” in erster Näherung immer mit 120.000 € belegt. Oder wenn dem „Speicher” pro Jahr 100 Mio. zufließen, die durchschnittlich 1 Woche verweilen, wären im „Speicher” stets 2 Mio.
Die Möglichkeit, den Speicherinhalt größtenteils verleihen zu können, ergibt sich aus dem beobachteten Sachverhalt, dass die aktuellen Schwankungen, bedingt durch bisweilen unterschiedlich starke Zuflüsse und Abflüsse und Änderungen in der durchschnittlichen Verweilzeit, den Speicher normalerweise nicht unter eine bestimmte Marke sinken lassen. Liegt diese Marke z.B. bei 2/3, dann können die GB 2/3 des Giralgeldbestandes ohne großes Risiko verleihen. Die notwendige Reserve liegt bei 1/3. Sind die Schwankungen geringer, dann kann auch die Reserve niedriger ausfallen und eine größerer Anteil des Giralgeldbestandes problemlos ausgeliehen werden. Verliehen wird also auch hier den GBen überlassenes Geld, gewissermaßen strukturell überlassenes Geld. Und hier wie dort handelt sich bei dem überlassenen Geld um „Ersparnis”: bei „Termineinlagen” um bewusste Ersparnisbildung, hier gewissermaßen um dem Giralgeldverkehr inhärente Ersparnis.
Auf der Grundlage dieses simplen und klar fassbaren Sachverhalts wird nun von Bernd Senf eine gespenstige Argumentation errichtet. Weil die Banken wüssten, dass immer nur – sagen wir z.B. – (höchstens) ein Drittel der jeweils auf den Girokonten gelagerten Gelder als Bargeld abgehoben würden, wären es ihnen möglich, das Dreifache dessen, was da eingezahlt wird, als „zusätzliches Giralgeld aus dem Nichts (zu) schöpfen”[6]. Mit anderen Worten: das auf den Girokonten liegende Geld bildet die „Reserve”, also die Sicherheit für das Dreifache an vergebenen Krediten, die „aus dem Nichts” entstanden sind. Je geringer der notwendige Reservesatz, umso mehr Kredit kann also aus dem Nichts geschöpft werden.
Die begrenzende Anbindung an eine „Reserve” ändert jedoch absolut nichts am Grundproblem der „Kreditschöpfung” (s. Artikel „Wie ich vom Bann der Kreditschöpfungstheorie loskam”).
Außerdem fragt man sich, welche seltsame Aushöhlung des Reservebegriffs hier stattgefunden hat. Wenn ein Teil der Einlagen als Reserve einbehalten wird und nicht als Kredit vergeben wird, dann dient das dem Schutz der Einleger bzw. Gläubiger (und indirekt dem Schutz der Bank vor Systemzusammenbrüchen). In Falle des Giralgeldes geht es darum, dass die Kontoinhaber jederzeit auf ihr Geld zurückgreifen können. Wenn nun Senf die gesamten Giralgeldbestände zur „Reserve” für die aus dem Nichts geschöpften Kredite erklärt, stellt sich schlicht die Frage, wem eigentlich diese „Reserve” als Sicherheit dient. Einleger, Kreditgeber, Gläubiger, die geschützt werden müssten, gibt es per definitionem gar nicht! Oder dient sie indirekt dem Schutz der kreditschöpfenden Bank? Kreditschöpfung aus dem Nichts bedeutet im Klartext: Die GB schafft einem Kunden eine entsprechende Kaufkraft. Obwohl die Bank dafür nichts hergibt, kassiert sie dafür Zinsen. Der Kunde muss den Kredit tilgen, d.h. die Bank bekommt Geld zurück, das sie realiter gar nicht gegeben hat. Das kommt einer Lizenz zum Gelddrucken gleich – mit dem „kleinen”, aber sehr erfreulichen Zusatz: sie muss für diese Lizenz keine Gebühr bezahlen, sondern erhält dazu noch eine solche (in Form der Zinsen). Wieso muss ein solches Verfahren abgesichert werden? Es erzeugt nur Gewinne für die Bank ohne jedes Risiko irgendwelcher Verluste.
Die ganze Reserveüberlegung erzeugt nur Verwirrung, liefert aber keinerlei Substanz, der die Möglichkeit zur Kreditschöpfung aus dem Nichts untermauern könnte. Wenn die Behauptung, die GB könne beliebige Mengen an Kredite aus dem Nichts schöpfen, unglaubwürdig ist, dann ist die Behauptung, man könne Kredite aus dem Nichts schöpfen, solange man eine Reserve in der Größenordnung hat, die bei der Vergabe von Krediten im Allgemeinen notwendig ist, um keinen Deut glaubwürdiger. Wenn die GB irgendetwas auf eine Liste schreiben und dadurch etwas Reelles (Kaufkraft) erzeugen kann, wozu braucht sie angesichts dieser Zauberkraft noch irgendwelche Überlegungen zur Reserve? Es geht nur um die eine Frage: Können die Banken zaubern? Wenn ja, sind Reserveüberlegungen überflüssig. Wenn nein, verhelfen ihnen auch Reserven nicht zu dieser Fähigkeit.
[1] www.mueller-reissmann.de unter Kategorie „Geldreform”
[2] Vgl. Helmut Creutz: Die 29 Irrtümer rund uns Geld, Signum, München-Wien, 2004, Nr.15
[3] Vgl. Gero Jenner: Wohlstand und Armut. Eine allgemeine Theorie über Eigentum, Geld, Güter und Staat (bislang unveröffentlichtes Manuskript).
[4] Xenon gibt dem Achill durch die Art der Darstellung („bis Achill den Punkt erreicht hat, an dem die Schildkröte eben noch war, ist diese ein kleines Stück weitergelaufen” usw.) nur eine begrenzte Zeit vor, um die Schildkröte zu überholen, und zwar in Form einer unendlichen Reihe, deren endliche Summe exakt die Zeitspanne ist, die Achill braucht, um die Schildkröte einzuholen. In diese Zeitspanne kann er sie natürlich nicht überholen.
[5] Vgl. Bernd Senf: Giralgeldschöpfung der Geschäftsbanken – Mythos oder Realität? In: drs.: Der Tanz um den Gewinn, Lütjenburg 2004, S.88ff.
[6] Bernd Senf, ebd. S.96