Über den Geldfehler und seine Korrektur
12. Mai 2009 von Friedrich Müller-Reißmann
Friedrich Müller-Reißmann
Mai 2009
Eine knappe Einführung in das Zinsproblem und seine Lösung
Der Text behandelt zunächst drei schwerwiegende Auswirkungen des Strukturfehlers im derzeitigen Geldsystem und skizziert im Anschluss daran den Ansatz für eine (letztlich unvermeidliche) Korrektur dieses Fehlers. Diese wird nicht alle brennenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme lösen, aber ohne eine solche Korrektur werden sich die Probleme – allen gut gemeinten und so genannten Reformen zum Trotz – bis zur Unlösbarkeit verschärfen.
Die im Folgenden dargelegten negativen Auswirkungen, die mit dem derzeitigen Geldsystem verbunden sind – (1) die ständig zunehmende Subventionierung von Reichtum, d.h. das Wachsen der „Einkommen auf Vermögen” zulasten der Einkommen auf Leistung, (2) der genau daraus folgende Wachstumszwang und (3) die ökonomische Abwertung der Zukunft und damit die strukturelle Behinderung der Nachhaltigkeit – sind nicht die einzigen gravierenden negativen Auswirkungen des Geldfehlers. Als weitere Themen insbesondere im Blick auf die Stabilität und die Kriegsgefahr seien genannt: die Staatsverschuldung, die internationale Schuldenfalle und die Gefahr von Inflation und Deflation. Auf diese Problematik wird nicht eingegangen. Auch nicht auf das Problem der wachsenden weltweiten Spekulation – ebenfalls, was meist übersehen wird, ein „Kind” des Zinssystems, denn nur dieses schafft die rasch wachsenden ‚überflüssigen Vermögen’, die nicht mehr genug lukrative Anlagemöglichkeiten in der realen Wirtschaft finden und mehr und mehr in die Spekulation drängen (mit verheerenden Folgen, wie wir gegenwärtig an der Finanzkrise (2008/2009) erleben. (Vgl. dazu „Die organisierte Spekulation” unter www.mueller-reissmann.de).
(1) Der „unterirdische Geldstrom” oder die Reichtumssubventionierung
Der Zins bedeutet einen Transfer von Geld „von denjenigen, die weniger Geld haben, als sie brauchen und sich Geld leihen müssen, zu denen, die mehr davon haben, als sie benötigen” [1].
Bei diesem Satz handelt es sich um eine augenfällige Wahrheit: natürlich, wer Geld verleihen kann, hat genug davon und kann verleihen, und genau dadurch bekommt er mehr. Doch damit ist nur der sichtbare „oberirdische” Teil dieses Transfers, der Geldstrom vom Schuldner zum Gläubiger, im Blick. Weitaus massiver ist der Teil des Flusses, der unter der Oberfläche liegt: der weithin unbekannte „unterirdische Geldstrom”, der mit dem Zinssystem verbunden ist. Er fließt nicht vom Schuldner zum Gläubiger, sondern von denen, die relativ wenig Vermögen besitzen, zu denen, die viel davon haben. Der „unterirdische Geldstrom” ist zugleich – im doppelten Wortsinn – ein „unverschuldeter” Transfer von Arm nach Reich. Wie ist dieser Umverteilungsmechanismus zu erklären? Im Grunde ganz einfach:
Alle im gesamten System einer Volkswirtschaft vergebenen Kredite stammen letztlich aus den Ersparnissen der Haushalte. Alle Zinsen, die dadurch den Haushalten zufließen, müssen letzten Endes auch von der Gesamtheit aller Haushalte getragen werden. Kredite, die im Zuge der Güterproduktion aufgenommen werden (für Grundstücke, Gebäude, Maschinen, Vertrieb, Werbung usw.), müssen sich in den Produktpreisen niederschlagen. Kredite, die für den Wohnungsbau aufgenommen werden, verteuern die Mieten. Und Zinsen, die der Staat für seine Schulden bezahlen muss, wird er sich über die Steuern zurückholen. Hinzu kommen die Zinsen bzw. Renditen für unverschuldetes Sachkapital, für die das Gleiche gilt: sie sind einerseits Ertrag, andererseits Belastung der Haushalte. Alle Ausgaben der Haushalte – Einkauf von Waren und Dienstleistungen, Mieten, Steuern – enthalten einen bestimmten Anteil an Zinsen. Setzt man alle im System gezahlten Zinsen (incl. der Kapitalerträge auf Sachkapital) in Relation zur Gesamtheit aller Ausgaben der Haushalte, so ergibt sich die durchschnittliche Zinsbelastungsquote. Sie liegt heute in der Größenordnung von 30%. Mit jeder Ausgabe trägt ein Haushalt also stets eine indirekte Zinslast. Sie ist mit den direkten Zinseinnahmen des Haushalts aufgrund seines (zinstragenden) Vermögens zu vergleichen. Und wenn nun für einen Haushalt (oder eine bestimmte Haushaltsgruppe) der Anteil an der Gesamtheit aller Haushaltsausgaben und damit der indirekten Zinsbelastung größer ist als der Anteil an der Gesamtheit der Vermögen und damit der direkten Zinseinnahmen, so ist er Verlierer. Der Vermögende hingegen, der aufgrund seines hohen Vermögens mehr Zinsen direkt einnimmt, als er über seine Ausgaben an der Gesamtzinslast indirekt trägt, ist Gewinner.
Die Realität sieht heute so aus[2]: Die große Mehrheit der Haushalte (90% oder 34,2 Mio. Haushalte) tätigt von den gesamten Ausgaben etwa 79%, trägt also auch von der Gesamtzinslast 79%, während ihr Anteil an den direkten Zinseinnahmen nur 31% beträgt.
Bei einer Gesamtzinslast (=Gesamtzinsertrag) von 360 Mrd. €[3] zahlt die Mehrheitsgruppe also 284 Mrd. € indirekt an Zinsen und bekommt direkt 112 Mrd. €. Es ergibt sich für sie ein negativer Zinssaldo von 172 Mrd. €.
Für die Minderheitengruppe der 10% reichsten Haushalte (3,8 Mio. Haushalte), die einen Anteil an den Ausgaben von 21% und an den Zinseinnahmen von 69% hat, ergeben sich entsprechend indirekte Zinsbelastungen von 76 Mrd. € und direkte Zinseinnahmen von 248 Mrd. € und damit ein positiver Zinssaldo von 172 Mrd. €.
Die reiche Minderheit kassiert aufgrund ihres hohen Vermögens (wobei sie ihr Vermögen zudem zu höheren Zinssätzen anlegen kann als der Durchschnitt) mehr Zinsen, als sie über ihre Ausgaben indirekt an Zinsen „zurückgibt”, d.h. als sie sich an der Finanzierung der Zinsen beteiligt. Und dieser Transfergewinn ist nun wiederum die Ursache dafür, dass die Reichen ihr Vermögen absolut und relativ im Verhältnis zur Mehrheit vermehren können.[4] Der Teufelskreis der positiven Rückkopplung von Zins und Zinseszins hat sich geschlossen. Der Transfer von Arm nach Reich wächst mit mathematischer Zwangsläufigkeit exponentiell, solange wie die Reichen ihren Transfergewinn (das eigentliche „Einkommen auf Vermögen”) zur Aufstockung ihres Vermögens nutzen und zinstragend anlegen (können).[5] Man kann aufgrund der unsicheren Datenlage[6] die Höhe dieses Transfers anzweifeln, nicht jedoch den grundlegenden Umverteilungsmechanismus und seine unerbittliche Wachstumsdynamik.
Bei dieser Skizzierung der Grobstruktur des Transfers ging es zunächst nur darum zu erklären, wieso ein solcher Transfer von Arm nach Reich in einer Zinswirtschaft zustande kommt. Um die tatsächlichen Geldflüsse etwas genauer erfassen und politisch bewerten zu können, sind noch einige Modifikationen und Differenzierungen vorzunehmen. So ist zu berücksichtigen, dass von den (personenbezogenen) Steuern die Reichen einen höheren Anteil tragen als von den Haushaltsausgaben für den Konsum. Vor allem muss in die Überlegung einbezogen werden, dass die Haushalte nicht voll in den Genuss der direkten Zinseinnahmen bzw. Kapitalerträge gelangen, sondern heute 25% davon als Steuern abzuführen haben (wobei gewisse Freibeträge existieren). Unter vorsichtiger Abschätzung ergibt sich dann als Ergebnis: Die Mehrheiten haben mindestens einen Verlust von 175 Mrd. € durch das Zinssystem zu tragen, während die reichsten 10% der Haushalte einen Gewinn von mindestens 90 Mrd. € verbuchen können. Der Verlust der Mehrheit ist genau um den Betrag der gezahlten Zinssteuern größer als der Reingewinn der Minderheit. Das bedeutet: Die Mehrheit finanziert nicht nur den Gewinn der Minderheit, sondern letzten Endes auch die gesamten Zinssteuern. Da die Mehrheit aufgrund eigener Zinseinnahmen etwas über 20 Mrd. € an den Staat an Zinssteuern abzuführen hat, bedeutet das Ergebnis, dass der Transfer von der Mehrheit zur Minderheit etwa 150 Mrd. € beträgt, wovon diese etwa 60 Mrd. € an Zinssteuern an den Staat abführt (wenn sie es denn tatsächlich korrekt tut!), so dass ihr 90 Mrd. € verbleiben.
Wir haben es hier also mit einer massiven Subventionierung einer reichen Minderheit durch die 90%ige Mehrheit zu tun. Da die zweitreichste Gruppe einen Sonderfall darstellt – bei ihr gleichen sich der direkte Zinsertrag und die indirekte Zinsbelastung in etwa aus -, sind es letzten Endes 80% der Haushalte, die die 10% reichsten Haushalte subventionieren – wobei es eine Frage des Geschmackes ist, ob man die Höhe der Subventionierung daran bemisst, was die 80ige Mehrheit für den Transfer zur reichen Minderheit aufbringen muss (150 Mrd. €), oder daran, was bei der reichen Minderheit davon tatsächlich verbleibt (90 Mrd. €). Auf jeden Fall bedeutet diese Subventionierung, dass der durchschnittliche Haushalt der Verlierergruppe im Jahr knapp 6.000 € indirekt zahlen muss, damit die 10% ohnehin reichsten Haushalte durchschnittlich um knapp 25.000 € ohne jede eigene Leistung reicher werden.
Diese Zahlen basieren auf einer groben Abschätzung und beziehen sich auf das Jahr 2005 (ein Jahr, das in einer Niedrigzinsphase liegt, so dass der Transfer relativ niedrig ausfiel). Natürlich schwankt die Höhe des „unterirdischen Geldstromes” in Abhängigkeit vom Zinssatz beträchtlich, wodurch sich die Lage zeitweise entspannen oder verschärfen kann. Wenn sich z.B. aufgrund höherer Zinssätze die Gesamtzinslast um 10% erhöht, dann wachsen aufgrund der Linearität der Zusammenhänge auch die Transfergrößen um 10%.
Seit ich von der „Subventionierung des Reichtums” durch diesen 150 Mrd. € – Transfer weiß, drängt sich mir immer, wenn in der öffentlichen Diskussion von irgendwelchen Summen die Rede ist, die man angeblich nicht hat für eine soziale Verbesserung, die man zur Entschädigung von Opfern der Zwangsarbeit unter großen Mühen endlich irgendwie „zusammengekratzt” hat, oder deren Verschwendung man zu Recht kritisiert usw., der Vergleich mit diesen 150 Mrd. € auf. Einige willkürlich gewählte Beispiele:
2,5 Mrd. € Subventionierung der deutschen Steinkohle 2006,
5,6 Mrd. € Subventionierung der deutschen Landwirtschaft,
(50 Mrd. € Subventionierung der Landwirtschaft in der EU),
1,9 Mrd. € Verschwendung von Steuermitteln durch öffentliche
Hände (laut Bundesrechnungshof Nov. 2007),
4,4 Mrd. € soll durch das vom Kabinett (Dez. 2007) beschlossene Klimapaket
an jährlichen Mehrkosten auf die Bauherren zukommen …
Jeder kann für sich bei jeder Nachrichtensendung oder Zeitungslektüre diese Liste endlos ergänzen und ein Gefühl dafür bekommen, welche Menge an Geld da ohne jeglichen Nutzen und ohne Not (denn es gibt eine Alternative zum gegenwärtigen Geldsystems, s.u.) zu den Reichen hin transferiert wird. Und es wird ihm dabei vielleicht der merkwürdige Sachverhalt bewusst werden, dass über alle diese viel kleineren Summen oft heftig gestritten wird, während die so viel größere Summe nirgendwo Gegenstand einer Debatte ist. Und selbst ganz gewaltig anmutende, erschreckende Summen, wenn es z.B. heißt, dass wirksame Maßnahmen gegen den Klimawandel weltweit im nächsten Jahrzehnt insgesamt 2.000, 3.000 oder gar 10.000 Mrd. $ kosten würden, erscheinen in einem neuen Licht: betragen diese Summen doch nur ein (überschaubares) Mehrfaches dessen, was in nur einem Jahr, allein nur in Deutschland, aufgrund unseres heutigen Geldsystems, für das es keine zwingende Notwendigkeit gibt, hin zu denen transferiert wird, die es am allerwenigsten brauchen: den Reichen.
(2) Das Zinssystem und der Wachstumszwang
Die Subventionierung von bereits Reichen ist ein unfasslicher Skandal, aber nicht das eigentliche Problem. Wie moralisch ungerechtfertigt ein Transfer von Arm nach Reich auch ist, er wäre sogar mit andauerndem Nullwachstum verträglich. Es würde ja ‚nur’ bedeuten, dass die Reicheren jedes Jahr ein großes, durch keinerlei eigene Leistung begründetes Zusatzstück vom Kuchen bekämen. Wenn sie das Stück freudig verspeisten, könnte sich das Spiel jedes Jahr relativ problemlos wiederholen. Normalerweise haben aber diejenigen, die Geld verleihen können, einen vollen Bauch und können oder wollen das Zusatzstück nicht verspeisen (weder konsumieren noch zu Investitionen nutzen), sondern fügen es ihrem Vermögen hinzu. Außerdem haben sie zumeist ein hohes sonstiges Einkommen, das sie zu dem gleichen Zweck nutzen. So vermehrt sich ständig das Stück, das die Reichen zusätzlich bekommen. Das ist der Punkt, den keine Gesellschaft auf die Dauer verkraftet.
Solange die „Selbstvermehrung der überflüssigen Vermögen” nicht außer Kraft gesetzt wird, können die Reichen ihr Vermögen bequem vergrößern und den Vorsprung gegenüber der Mehrheit ausbauen, wodurch der „unterirdische Geldstrom” weiter anschwillt und die Grundlage geschaffen wird, den Vermögensvorsprung weiter auszubauen, usw. usf. Die Mehrheit muss einen immer größeren Betrag aus ihrem Einkommen für die Subventionierung des Reichtums aufbringen. Grundsätzlich hat sie zwei Möglichkeiten zu reagieren: sie kann ihren Konsum einschränken oder ihre eigenen Vermögensbestände abbauen. Beide Möglichkeiten sind begrenzt. Das bedeutet, dass es zwangsläufig zu einer unerträglichen Situation kommt.
Und genau hier liegt eine der wesentlichen Ursachen für den Wachstumszwang, unter dem unsere Gesellschaft leidet.[7] Zinszahlungen als solche verursachen keinen Wachstumszwang. Man bekommt oft die irrige Auffassung von Zinskritikern zu hören, dass die insgesamt im System der Volkswirtschaft gezahlten Zinsen zusätzlich erwirtschaftet werden müssten, was dann bei Nullwachstum bedeutet, dass die Leistungseinkommen genau entsprechende Einbußen erfahren. Damit wird der Eindruck suggeriert, die an das „Kapital” gezahlten Zinsen würden prinzipiell die Kaufkraft der arbeitenden Menschen schmälern. Diese Auffassung ist zumindest sehr verkürzt und entsprechend missverständlich. Wenn jeder Haushalt, egal ob er ein großes oder kleines Vermögen zinstragend anlegt, genau im gleichen Verhältnis auch Ausgaben tätigt und damit seinen Zinsanteil „zurückgibt”, bleibt alles im Lot. Bei steigender Zinslast und Nullwachstum würde zwar der Zinsanteil in den Ausgaben steigen und im selben Maße der Anteil für die Leistungsentlohnung sinken, doch für keinen Haushalt (bzw. keine Haushaltsgruppe) hätte sich die Kaufkraft verändert. Was er weniger für seine Leistung bekommt, bekommt er exakt mehr an Zinsen für sein Vermögen. Das Problem entsteht allein durch das wachsende Ungleichgewicht in der Einkommens- und Vermögensverteilung und den dadurch wachsenden Transfer von Arm nach Reich. Dieser Prozess verstößt (erstens) immer stärker gegen den Wert Gerechtigkeit, verschärft (zweitens) die sozialen Spannungen und untergräbt (drittens) die Leistungsmotivation und damit die Quellen der Effizienz der Gesellschaft. Dieser Prozess muss durch Wachstum entschärft werden.
Um es noch einmal deutlich zu sagen: Nicht wegen der Zinsen als solchen braucht unsere Gesellschaft Wachstum – denn es ist einfach nicht wahr, das die im System gezahlten Zinsen insgesamt zusätzlich erwirtschaftet werden müssen -, sondern weil ohne Wachstum der soziale Druck auf die durch den wachsenden Vermögenstransfer zu den Reichen belastete Mehrheit unerträglich würde. Wirtschaftswachstum ist der Versuch, an der wachsenden Subventionierung des Reichtums festzuhalten, ohne dass die sozialen Spannungen wachsen. Ohne Wirtschaftswachstums geht der Zuwachs des Vermögenstransfers (nur um den geht es, nicht um die gezahlten Zinsen insgesamt!) bei den Vermögenden voll zulasten der großen Mehrheit, die Konsumeinschränkungen auf sich nehmen oder ihr Vermögen aufzehren muss (wodurch sich das Ungleichgewicht noch weiter vergrößert). Mit Wirtschaftswachstum steigt zwar auch der Transfer von Arm nach Reich aus der exponentiellen Logik von Zins und Zinseszins und öffnet sich damit auch die Vermögensschere zwischen der Mehrheit und der reichen Minderheit (sowohl absolut als auch relativ), aber solange die Mehrheit durch Mehreinnahmen kompensieren oder sogar überkompensieren kann, was ihr zusätzlich als Transferleistung abverlangt wird, bleibt der soziale Friede gewahrt. Wenn der Transfer von Arm nach Reich um etwa 4% steigt[8], genügt zur Kompensation des Anstiegs heute etwa 1% Wirtschaftswachstum (selbst wenn die reiche Gruppe ihre wachstumsbedingten Mehreinnahmen nur zur Aufstockung ihres Vermögens nutzt). Diese Minimalbedingung war über weite Strecken der bundesrepublikanischen Geschichte erfüllt, für alle stiegen sogar die Einkommen; entsprechend war der soziale Friede nie ernsthaft in Gefahr, obwohl die Schere zischen Arm und Reich ständig wuchs.
Nun klingt die Notwendigkeit eines 1%iges Wachstums aufgrund des Zinssystems nicht sonderlich problematisch. Nur – das ist heute so, wo der Transfer von Arm nach Reich mit etwa 150 Mrd. € im Verhältnis zu den gesamten Haushaltsausgaben der Mehrheit, die bei mehr als 1.000 Mrd. € liegt, noch relativ klein ist. Das ändert sich aber kontinuierlich in dem Maße, wie das Wirtschaftswachstum und dementsprechend der Anstieg der der Mehrheit zur Verfügung stehenden Geldmittel hinter dem Wachstum des Transfers zurückbleibt. Genügte in der Anfangsphase des entstehenden Ungleichgewichts ein Wirtschaftswachstum von weit weniger als 1%, um den etwa 4%iger Zuwachs beim Transferverlust für die Mehrheit auszugleichen, so sind es nach wenigen Jahrzehnten 2, 3 und schließlich ebenfalls 4%, die notwendig sind, damit sich die wirtschaftliche Lage der Mehrheit zumindest nicht absolut verschlechtert. Das Dilemma ist offensichtlich: der Transfer von Arm nach Reich wächst aus der Logik von Zins und Zinseszins automatisch, die Wirtschaft kann mit diesem Tempo auf die Dauer nicht Schritt halten.
Der vom Zinssystem ausgehende Wachstumszwang entbehrt nicht einer gewissen Tragikomik. Eine Gesellschaft mit einem Zinssystem ist aus sozialen Gründen auf Wachstum angewiesen, während gleichzeitig dieses Zinssystem als Wachstumsbremse wirkt, indem es denen immer mehr Geld nimmt, die gern mehr konsumieren möchten, und zu denen transferiert, die es gerade nicht zur Konsumsteigerung nutzen. Mehr noch: Das Zinssystem benötigt sogar jedes Jahr ein größeres Wachstum, während es automatisch die Bremse im gleichen Zuge immer mehr anzieht.
Der Wachstumszwang ist eine (auf die Dauer ungeeignete) Systemantwort[9] auf ein soziales und funktionales Ungleichgewicht. Die Wachstumsstrategie ist als Problemlösung in einem doppelten Sinn ungeeignet. Erstens ist Wachstum auf die Dauer aus vielen Gründen gar nicht möglich und wünschenswert, und zweitens, wenn es tatsächlich zu einem Wachstum kommt, der den weniger Vermögenden einen Ausgleich für den Vermögenstransfer hin zu den Reichen bringt, verringert sich damit das Ungleichgewicht überhaupt nicht, im Gegenteil: die Reichen, die am Einkommenszuwachs durch Wachstum zumindest proportional mitprofitieren, werden diesen Zuwachs nicht zur Ausweitung ihres Verbrauchs, sondern zur Vermehrung ihres Vermögens nutzen. Ihre indirekte Belastung durch das Zinssystem wird nicht steigen, aber ihre direkten Zinseinnahmen. Ihr positiver Saldo wächst weiter und damit das Ungleichgewicht im System. Und wie gesagt: Je größer der Transfer, desto dringender braucht man Wachstum.
Das wachsende Ungleichgewicht aufgrund des Zinssystems ist der tiefere Grund für die Abhängigkeit vom Wachstum.
Dieser tiefere Grund wird vor der öffentlichen Diskussion verborgen gehalten. Ähnliches gilt für alle anderen fatalen Folgen des Geldfehlers: nirgendwo werden sie als solche diskutiert. Stattdessen wird uns mit Erfolg suggeriert, dass man Wachstum brauche, weil „die Menschen” ‚nun mal’ immer mehr wollten, „von Natur” unersättlich seien, das Glück im Konsum von immer mehr Gütern und Dienstleistungen bestünde, Stillstand Rückschritt bedeute usw. usw., ohne dass diese und ähnliche Phrasen je ernsthaft auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft werden. Aus Politikermunde ist seit Jahrzehnten kaum etwas anderes zu hören, in den Massenmedien sucht man heute eine wirklich kritische Auseinandersetzung mit dem Wachstumszwang vergeblich, und die milliardenschwere Reklame singt uns ohnehin das Lied vom großen Glück des Mehr und Sofort und Öfters unablässig und überall. So ist es tatsächlich gelungen, dass wir alle glauben, ohne Wachstum ginge es nicht, und keine rechte Vorstellung davon haben, warum das so ist. Ich sage es noch einmal: Wir brauchen deshalb Wachstum, weil wir ein Geldsystem mit einem Strukturfehler haben – ein Geldsystem, das „Einkommen auf Vermögen” etabliert und zugleich bewirkt, dass diese Einkommen automatisch wachsen. Wenn man nicht unerträgliche soziale Spannungen in Kauf nehmen will, weil die Einkommen auf Leistung ständig abnehmen, braucht man Wachstum. Wenn der eine vom Kuchen automatisch einen immer größeren Anteil bekommt, kann der Krieg nur dann vermieden werden, wenn der ganze Kuchen wächst.
Zur Vermeidung von Missverständnissen: Diese Kritik am „Wachstumszwang” bedeutet natürlich nicht, dass Wachstum unter allen Bedingungen eine schlimme Sache sei. Davon kann keine Rede sein. Eine Gesellschaft, die an Unterversorgung mit Gütern und Dienstleistungen leidet, in der Armut und sogar Elend herrscht, muss seine Produktion entwickeln und ausweiten. Wachstum kommt unter solche Bedingungen dann auch zustande, wenn das Wirtschaftsleben einigermaßen intelligent (marktwirtschaftlich) geregelt wird. Ein Geldsystem wie das unsere, bei dem der Zins eine zentrale Rolle spielt, ist dafür nicht unbedingt erforderlich. Es wird jedoch ohne Zweifel in einer solchen „Anfangsphase” der wirtschaftlichen Entwicklung stimulierend und forcierend wirken (wobei eine weniger überhitzte, stetigere Entwicklung auf der Basis ein anderes Geldsystems vielleicht wünschenswerter wäre). Was hier kritisiert wird, ist, dass das Zinssystem „Wachstumszwang” auch dann bedeutet, wenn Wachstum nicht (mehr) notwendig, wünschenswert und möglich ist.
(3) Die ökonomische Abwertung der Zukunft
Mit dem Zins ist ein weiteres schwerwiegendes Problem verbunden. Er verstärkt in unserem Wirtschaftssystem strukturell eine Begünstigung der kurzfristigen Perspektive. Es geht hier nicht darum, dass es der Mensch ‘natürlicherweise’ bevorzugt, schnell Erfolg zu haben, anstatt lange darauf warten zu müssen. Es geht darum, dass durch den Zins Gewinne, die nicht schnell genug gemacht werden können, ökonomisch uninteressant werden, und hierdurch im Zusammenspiel mit den Konkurrenten ein ökonomischer Zwang zur kurzfristigen Perspektive und zur Beschleunigung der Wirtschaftsprozesse besteht. Der Zins bewirkt eine Abdiskontierung von Zukunft, d.h. eine systematische Unterbewertung zukünftiger Probleme oder Gewinne, oder anders gewendet: eine systematische Überbewertung gegenwärtiger Kosten und Gewinne in den Wirtschaftlichkeitsrechnungen. Was heute bezahlt werden muss, zählt 100%, was später bezahlt werden muss, nur einen Bruchteil davon.
Angenommen, jemand würde heute ein Projekt realisieren, das ihm 1 Mio. Gewinn bringt, bei dem aber mit hoher Wahrscheinlichkeit, ja, mit Gewissheit in 20 Jahren ein Folgeschaden entsteht, für den er belangt wird und 2 Mio. Strafe zahlen muss. Bei einer Verzinsung von nur 4% würde sich die Sache für ihn schon lohnen, denn in 20 Jahren würden aus 1 Mio. fast 2,2 Mio. werden. Wenn der Zeitpunkt der Zahlung nur weit genug in der Zukunft liegt, genügt es dafür, den berühmten Pfennig auf der Bank zu deponieren, der durch Zins und Zinseszins zu einer unvorstellbaren Summe anschwillt. Der Zins wertet gleichsam Verantwortung gegenüber der Zukunft ab, ganz unabhängig von der persönlichen Bereitschaft von einzelnen Menschen zur Zukunftsverantwortung. Damit wird erschwert, dass die gesellschaftliche Entwicklung den Pfad der Nachhaltigkeit geht.[10] Zinsen belasten die Zukunft mit den Fehlentscheidungen der Gegenwart. Ein schlagendes Beispiel: Investitionen zur Energieeinsparung. Wären die Zinsen nicht, wären Energiespartechniken wesentlich wirtschaftlicher. Besonders im Raumwärmebereich, wo es sich um sehr langlebige Einsparinvestitionen mit entsprechend niedrigen Abschreibungskosten handelt, machen – ähnlich wie bei der Raummiete – die Zinsen den Löwenanteil der Kosten aus. Die Zinsen verschieben die betriebswirtschaftliche Kalkulation massiv zugunsten des Verbrauchs von Energie. Ohne Zinssystem hätten wir den Energieverbrauch seit den Ölkrisen viel stärker senken und uns aus der bedrohlichen und beschämenden Abhängigkeit von Energieimporten befreien können! Es gilt ganz allgemein: Zinsen drücken den Preis der natürlichen Ressourcen und beschleunigen damit die „Vernutzung” der Umwelt.
Ein banales Beispiel:
Angenommen 3000 € Investition bringen eine Einsparung von 300 l Heizöl im Jahr.
Kostenersparnis (0,6 €/l): 180 €
Amortisation nach 16,7 Jahren (ohne Zins)
Bei einer Lebensdauer der Investition von 20 Jahren und mehr erscheint die Investition vernünftig.
Muss man jedoch mit einem Zins von z.B. 6% rechnen, müsste man allein für die Zinsen jährlich 180 € aufbringen. Hinzu kommen die Kosten für die Tilgung. Die Investition erscheint als ökonomisch abwegig. Jeder „vernünftige” Mensch wird sich gegen die ökologisch sinnvolle Investition entscheiden und lieber am hohen Ölverbrauch festhalten.
Der Zins begünstigt Entscheidungen, die zulasten der Zukunft gehen.
Es ist höchst aufschlussreich, wie ein Chefvolkswirt[11] der Bundesbank diesen Tatbestand beschreibt. Er nennt den Zins ein „Verbindungsglied zwischen zukünftigem Einkommen und gegenwärtigem Vermögen”: „Je höher der Zins, desto stärker muss man den Wert einer zukünftigen Zahlung abdiskontieren”. Und weiter: „Der Zins … stellt ganz allgemein die ökonomische Verbindung zwischen Gegenwart und Zukunft, zwischen heute und morgen her. Auf diese Weise wirkt der Zins in alle Lebensreiche hinein, in denen es um Entscheidungen mit Zukunftsbezug geht. Erst der Zins ermöglicht eine generell vergleichende Bewertung von Ereignissen, die zu verschiedenen Zeitpunkten stattfinden. Über diesen Zusammenhang beeinflusst der Zins zukunftsgerichtete Handlungen und damit insoweit das Erscheinungsbild der Welt von morgen. Hier liegt der Kern der umfassenden intertemporalen Bedeutung dieses Preises”. Wie richtig! Nur in welche inhaltliche Richtung der Zins die Zukunft beeinflusst, darüber wird kein Wort verloren (vielleicht noch nicht einmal nachgedacht).
Stattdessen eine Erkenntnis, die eines Chefvolkswirts würdig ist: dass erst der Zins die vergleichende Bewertung von zeitlich auseinander liegenden Ereignissen ermögliche. Hier wird der Zins, der die Abdiskontierung der Zukunft bewirkt, dann als Retter in der Not gepriesen, an Hand dessen Höhe man – wie schön, dass wir den Zins haben! – nachrechnen kann, wie groß die Abdiskontierung ist!
Der Systemfehler und seine mögliche Korrektur
Im Folgenden wird nach der Möglichkeit einem alternativen Geldsystem gefragt, in dem der Geldfehler korrigiert wird, der mit Zins und Zinseszinses zusammenhängt. Es geht dabei nicht einfach um „Abschaffung” des Zinses und Ersetzen durch etwas anderes. Die notwendige Geldreform bringt zwar etwas anderes ins Spiel, wodurch sich der Stellenwert des Zinses verändert, aber der Zins spielt durchaus auch im neuen System eine (regelnde) Rolle. Jedoch ohne die heutige zerstörerische, fehlleitende Potenz.
Um den Ansatz für eine Geldreform zu verstehen, müssen wir kurz die Grundfunktionen des Geldes und des Geldflusses verdeutlichen:
Die drei Grundfunktionen des Geldes:
(1) Tausch- und Zahlungsmittel
Das ist die Hauptfunktion und dafür wurde es erfunden.
Geld ist für einen effizienten Güteraustausch unerlässlich.
(2) Vergleichsmaßstab
Geld erlaubt Ausgleichbarkeit, Konsistenz, Übersichtlichkeit
bei der Preisbildung auf dem Markt.
(3) Wertspeicher oder Wertaufbewahrungsmittel
Geld ermöglicht es, Besitz von Ort zu Ort und durch
die Zeit zu tragen, ohne sich mit Gepäck belasten
oder für Lagerungskosten aufkommen zu müssen.
Die Funktionen 1 und 3 stehen in einem Widerspruch. Je mehr Geld als Wertaufbewahrungsmittel verwendet wird, d.h. gehortet oder verschatzt wird, desto weniger steht es als Tausch- und Zahlungsmittel zur Verfügung. Die geniale Erfindung der Menschheit, die diesen Widerspruch in der Realität auflöst, ist der KREDIT. Durch denn Kredit kehrt das Geld in den Wirtschaftskreislauf zurück und erfüllt dort seine Hauptfunktion für die Gesellschaft, ohne das diejenigen, die ihre Werte im Geld „aufbewahren”, diese Werte einbüßen.
Erst der KREDIT ermöglicht es,
dass Funktion 1 (Geld ist Tausch- und Zahlungsmittel)
und Funktion 3 (Geld ist Wertspeicher) nebeneinander bestehen können:
WER GELD SAGT, MUSS AUCH KREDIT SAGEN.
Doch wie wird der Geldbesitzer bewegt, sein (‚überflüssiges’) Geld nicht zu horten, sondern via Kredit in den Geldkreislauf zu entlassen? Das ist die Frage der Fragen für das Geldwesen. Die offizielle Antwort lautet: Ohne Zinsen keine Kredite – mit den Worten von Ottmar Issing, eines ehemaligen Chefvolkswirts der Bundesbank: „Zins und Kredit stellen zwei Seiten einer Medaille dar”. WER KREDIT SAGT, MUSS AUCH ZINS SAGEN. Dieses Kerndogma des heutigen Geldsystems ist falsch:
Es gibt grundsätzlich zwei Möglichkeiten, denjenigen, der ‚überflüssiges Geld’ sein eigen nennt, zur Kreditvergabe zu bewegen: das Lösegeldprinzip und das Standgeldprinzip.
Das heutige System basiert auf dem Lösegeld-Prinzip. Der Geldbesitzer gibt sein ‚überflüssiges’ Geld nur dann frei, wenn er dafür eine Belohnung bekommt: den Zins. Der gesellschaftliche Preis dieses Verfahrens ist hoch (s. den ersten Teil dieses Papiers).
Die ALTERNATIVE funktioniert nach dem Standgeld-Prinzip.[12] Für nicht in den Kreislauf entlassenes Geld, das der Geldbesitzer bei sich zu seiner sofortigen Verfügung (seiner „Liquidität”) „stehen” lässt, wird ein „Standgeld” fällig (z.B. von 5 oder 6% pro Jahr), wodurch sich der Wert des zurückgehaltenen Geldes jährlich (um 5 oder 6%) verringert. Anders gewendet: der Geldbesitzer kommt nur dann in den Genuss der vollen wertbewahrenden Funktion des Geldes, wenn er sein Geld via Kreditvergabe in den Geldfluss entlässt.
Nutznießer des „Standgeldes” ist die öffentliche Hand, was systemlogisch stimmig ist, denn das Geldsystem ist eine öffentliche Leistung. Seine Funktionsfähigkeit basiert auf der Arbeit und dem Vertrauen in der Gesellschaft. Wenn der Geldbesitzer dieses System behindert (vom dem er selber ohnehin am meisten profitiert, denn er hat am meisten Besitz, den er bequem und ohne Kosten dank des Geldsystem aufbewahren kann), ist eine finanzielle Strafe zugunsten der öffentlichen Hand recht und billig.
Es ist charakteristisch, dass dieses Modell, sofern es überhaupt irgendwo mal zur Sprache kommt, sofort als „Schwundgeldtheorie” diffamiert wird, um dem Normalbürger zu suggerieren, da wolle man an sein Geld. Das Gegenteil ist der Fall:
Für denjenigen, der seine Liquidität (im Portemonnaie, im Tresor oder auf dem Girokonto) auf das Maß reduziert, das für seinen Lebensalltag notwendig ist, wird der Verlust durch das „Standgeld” marginal sein.
Ich habe einmal die Bilanz für unseren 2-Personen-Haushalt gemacht:
Heutiges Geldmodell:
Jährliche Haushaltsausgaben 20.000 €
Indirekte Zinsbelastung (Quote: 30%) 6.000 €
Zinserträge 1.000 €
Bilanz Verlust 5.000 € [13]
Alternatives Geldmodell:
Geld in Portemonnaie oder auf Girokonto 1.000 €
„Standgeld” 6% Verlust 60 €
Das Gegenteil ist also der Fall: Während das heutige System dem Normalbürger „an sein Geld geht”, wären beim „Schwundgeld” die Normalbürger die großen Gewinner! 60 € statt 5.000 € Verlust – das ist kein Vergleich!
Mit der Einführung eines „Standgeldes” auf zurückgehaltenes Geld würde der Zins nicht „abgeschafft”, es würde auch nichts verboten und nicht „in den Markt eingegriffen”. Es würde nicht mehr und nicht weniger geschehen, als dem Geld seine marktwirtschaftsfeindliche Privilegierung zu nehmen. Indem Geldzurückhaltung ständig etwas kostete, würde Geld unter Angebotszwang gestellt werden, wie es bei der überwiegenden Menge der Waren, die natürlichen oder künstlichen Alterungs- bzw. Wertzerfallsprozessen ausgeliefert sind, der Fall ist. Geldbesitzer könnten nicht warten, bis der Zins steigt. Heute können sie warten und genau dadurch erreichen sie, dass der Zins steigt. Durch diese (objektive) „Zinserpressung” kann der Zins selbst bei Kapitalüberangebot immer mindestens auf einer gewissen Höhe gehalten werden, wenn er nach den Marktgesetzen eigentlich gegen Null gehen müsste. Mit der Behebung des Strukturfehlers im Geldsystem durch Einführung des „Standgeldes” würden die Regelmechanismen der Marktwirtschaft nicht nur nicht ausgeschaltet, sondern in ihrer Wirkungsweise gefördert. Mit der Geldreform wäre eine entscheidende Voraussetzung für eine zukunftsfähige Entwicklung geschaffen. Mit dem Wegfall der „Zinserpressung” wird der Zins, genauer: der Urzins („Belohnung” des Kreditgebers und Knappheitsaufschlag) nach und nach auf Null fallen.
Nachbemerkung
Ziel dieser kurzen Darstellung des Themas Geld und Zins war es, die Grundlinien der Problematik, vor allem für den (nicht so seltenen) Zeitgenossen, an dem diese Problematik bislang spurlos vorüberging, möglichst plakativ aufzureißen und zur weiteren Beschäftigung mit dem Thema herauszufordern. Demjenigen, bei dem das gelungen ist, empfehle ich die Bücher von Helmut Creutz[14].
Jedem, der auf die Kritik am Zinsthema stößt, wird sich sicher sofort eine ganze Reihe von Fragen aufdrängen:
– Braucht man den Zins nicht als Sparanreiz?
– Braucht man den Zins nicht als Regulator für Kredite und die Geldwertstabilität?
– Muss nicht Kreditvergabe belohnt werden?
– Ist es moralisch akzeptabel, Geld eines anderen quasi kostenlos zu nutzen?
– Würde es der Wirtschaft nicht an „Risikokapital” fehlen?
– Würde ohne Renditeerwartung Kapital in die Entwicklungsländer fließen?
– Würden die Reichen ihr Geld nicht massenhaft ins Ausland schaffen?
– Wäre das nicht das Ende der Stiftungen?
– Würde nicht noch mehr Geld in die Spekulation drängen?
Ganz abgesehen von der Frage der politischen Durchsetzbarkeit:
– Ist es denkbar, dass sich diejenigen, die vom heutigen Geldsystem massiv profitieren
(jene 10%ige Gruppe der reichsten Haushalte, darunter das reichste 1%, das allein 23%
aller Vermögen besitzt und entsprechend Macht und Einfluss), das Instrument ihres
leistungslosen Einkommens nehmen lassen?
Was die ersteren Fragen und Einwände betrifft, so lassen sie sich der Reihe nach entkräften. Der Teufel steckt jedoch bekanntlich im Detail, und man kann natürlich nicht alle Probleme, die mit einem anderen Geldsystem verbunden sein könnten, von vornherein ausschließen bzw. vorweg eine Patentlösung parat haben. Jedoch ist der „Teufel”, der im jetzigen Geldsystem steckt, so groß und so offensichtlich, dass wir der Idee und der Diskussion einer Alternative nicht länger ausweichen und uns nicht länger ruhig stellen lassen sollten von unserer Unkenntnis über das Geldsystem bzw. der Effektivität unserer Verdrängungsmechanismen.
Was die Frage der politischen Durchsetzbarkeit des neuen Geldmodells betrifft, so weiß ich mit Sicherheit nur, dass es sich nicht durchsetzen lässt, solange so viele auch unter den Gebildeten und kritischen Geistern das ganze Thema weiterhin wirkungsvoll verdrängen.
[1] Margrit Kennedy: Geld ohne Zinsen und Inflation, Goldmann, München 1994, S.30
[2] Vgl. dazu ausführlich „Das Geld und die Frage der gerechten Verteilung” unter www.mueller-reissmann.de
[3] Diese Zahl ist etwa für das Jahr 2005 anzusetzen und dürfte das Problem eher untertreiben. Für 2007 z.B. ist diese Zahl schon deutlich höher. Sie umfasst nicht nur die Zinsen auf Geldschulden, sondern auch alle Kapitaleinnahmen auf unverschuldetes Sachkapital.
[4] Dieser Vermehrungseffekt durch die Zinsen trägt heute bereits stärker zum Wachstum der Vermögen bei als die Neuersparnisse. Die Bundesbank weist schon seit Jahren auf diese „Selbstalimentation der Geldvermögen” hin; vgl. Helmut Creutz: Die 29 Irrtümer rund ums Geld, Signum, München 2.Aufl., 2005, S.111
[5] Man kann ausrechnen, dass der Transfer allein durch diese Rückkopplung unter heutigen Bedingungen bei über 4% liegt und im Laufe der Zeit auf einen Grenzwert absinkt, der knapp unter 4% liegt. Vgl. „Das Geld und die Frage der gerechten Verteilung”, a.a.O., ANHANG Punkt 4
[6] Es wird z.B. nirgendwo in den Statistiken direkt angegeben, wie groß die gesamte im System gezahlten Zinsen/Renditen-Menge ist (das Zinsproblem existiert eben nicht im öffentlichen Bewusstsein und deshalb auch nicht für die Statistiker!). Man muss sie sich mit mehr oder weniger großer Unsicherheit auch den verschiedenen statistischen Daten, z.B. der Deutschen Bundesbank, erschließen. Vgl. dazu „Das Geld und Frage der gerechten Verteilung”, a.a.O.
[7] Es gibt eine zweite große Ursache für den Wachstumszwang: eine Fehlsteuerung bei der Organisation des technischen Fortschritts und der Verteilung der Arbeit. Solange technischer Fortschritt vorrangig in der Steigerung der Arbeitsproduktivität besteht und die Verkürzung der Arbeitszeit nicht realisiert werden kann, wächst die Arbeitslosigkeit, und daraus erwächst der Zwang, das Problem durch Wachstum zu lösen – eine auf die Dauer illusionäre Lösungsidee.
[8] Vgl. „Das Geld und die Frage der gerechten Verteilung”, a.a.O., ANHANG Punkt 4.
[9] Es gibt heute noch eine andere „Systemantwort” auf die entstandene Zwangslage. Es sieht so aus, als „deckele” sich das System selbst, indem große Teile des durch Zins gewonnenen Geldes nicht mehr wieder zinsbringend angelegt werden (bzw. angelegt werden können), sondern in die Spekulation drängen. Damit wird jedoch – wie die Finanzkrise zeigt – ein berechenbar wachsendes Problem in ein unberechenbares verwandelt.
[10] Vgl. Hartmut Bossel: Globale Wende. Wege zu einem gesellschaftlichen und ökologischen Strukturwandel, Droemer, München 1998, S. 131ff.
[11] Otmar Issing in der FAZ vom 24.11.1993, damals bei der Bundesbank, heute bei der EZB.
[12] Die Bezeichnung „Standgeld” ist dem üblichen Gebrauch im Güterverkehr der Bahn entlehnt. Mit dem Standgeld wird gesichert, dass Waggons möglichst schnell der weiteren Nutzung zur Verfügung stehen. Es gibt eine Reihe anderer Bezeichnungen für die alternative Umlaufsicherung: Nachhaltigkeitsgebühr, negativer Zins…
[13] Ich möchte an diesem Beispiel noch einmal meine oben gemachte Behauptung unterlegen, dass zur Kompensation bzw. Überkompensation der zunehmenden Transferbelastung für die weniger Vermögenden schon ein relativ geringes Wirtschaftswachstum von 1-2% ausreicht. Wenn die Zinsbelastung im System und damit auch der negative Saldo meines Haushalts um 4% steigt, müsste mein Haushalt eine zusätzliche Belastung von 200 € verkraften. Ein 1%iges Wirtschafswachstum würde uns, proportionale Verteilung vorausgesetzt, genau diese 200 € ersetzen.
[14] Helmut Creutz: Das Geldsyndrom. Wege zu einer krisenfreien Marktwirtschaft, Econ, überarbeitete und erweiterte Neuausgabe 2001; Die 29 Irrtümer rund ums Geld, Signum, München 2.Aufl. 2005. Vgl. dazu auch die kritische Würdigung des Creutzschen Ansatzes zur Abschätzung des Geldtransfers von Arm nach Reich sowie die Ergänzungen und Modifikationen dazu in: „Das Geld und die Frage der gerechten Verteilung” unter www.mueller-reissmann.de.
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