Fragen über Fragen – die in der öffentlichen Diskussion über die Finanzkrise nicht gestellt werden
12. März 2009 von Friedrich Müller-Reißmann
Die Politiker reihum sind entsetzt über das Versagen des Finanzsystems. Nachdem sie jahrelang gepredigt haben, dass dessen größtmögliche Freiheit von staatlicher Einmischung zu unser aller Wohl sei, betonen sie nun, dass ein besserer Ordnungsrahmen für die Finanzwirtschaft her müsse, ja, dass das ganze Finanzsystem zu reformieren sei. Und dann reden sie lediglich über schärfere Kontrollen der Akteure auf den Finanzmärkten, vom Verbot zu riskanter und zu undurchschaubarer spekulativer „Finanzprodukte” und natürlich publikumswirksam über die astronomischen Bezüge der Banker. Und beweisen damit, dass sie ganz und gar nicht willens oder fähig sind, zum Kern des Problems vorzudringen.
Nicht die Auswüchse des Finanzsystems, nicht die verantwortungslosen Machenschaften allzu gieriger Banker, Broker, Makler, Analysten, Fondsmanager sind das Problem, das Problem ist unser Geld- und Finanzsystem selbst und unsere „Geldmentalität”, die es für selbstverständlich hält, dass man mit Geld „Geld macht” , ohne einen Gedanken darauf zu verschwenden, wo das Geld herkommt, das man ohne eigene Leistung bekommt. Wenn ein sogenanntes Finanzprodukt „gut” ist und dem Anleger ohne jede Eigenleistung überdurchschnittlich viel bringt, was könnte das im Klartext anderes bedeuten, als dass es entweder so raffiniert gestrickt ist, dass möglichst viele Gegenspieler im „Finanzcasino” überlistet werden und ihre Wette verlieren, oder dass das Geld aus dem Verkauf des „Finanzprodukts” in die Luxusbefriedigung Zahlungskräftiger gesteckt, denen das Geld locker sitzt, oder in Ländern investiert wird, wo die arbeitenden Menschen möglichst wenig für ihre Leistung bekommen? Die allerbesten „Finanzprodukte” sind wahrscheinlich eine unentwirrbare Mischung aus allem, was sich bietet, Geld ohne eigene Leistung abzugreifen.
Die Politiker wollen zu riskante Spekulationen der Banken unterbinden, schön, aber wozu sind überhaupt Spekulationsgeschäfte von Banken notwendig? Eine denkbare Antwort wäre: Wenn eine Bank durch Spekulation gewissermaßen billig an Geld kommt (d.h. sie muss es nicht mühsam und unter beträchtlichen Kosten von „Anlegern” einsammeln), dann kann sie doch an die Wirtschaft kostengünstigere Kredite vergeben, und davon profitieren wir dann doch alle? Oder? Ist es tatsächlich so oder vermehren erfolgreiche Spekulationen nicht nur die Gewinne der Bank? Und was ist mit dem Gegenstück, da muss es doch auch Banken geben, die verlieren, und die könnten dann, wenn überhaupt, nur sehr teure Kredite an die Wirtschaft vergeben? Und das wäre dann wohl zu unser aller Schaden. Und drittens, wenn der Verliererbank das Aus droht, dann muss der Staat einspringen, und das ist dann mit Sicherheit zu unser aller Schaden.
An diese Fragen wird nicht gerührt. Natürlich erst recht nicht an die Grundfrage, die sich angesichts der maßlos gewachsenen Spekulationen aufdrängen müsste: Woher kommen eigentlich die ungeheuren Massen an ‚überflüssigen’ Vermögen, die heute spekulativ um den Globus kreisen? Warum werden sie nicht in der Wirtschaft investiert? Sind sie möglicherweise schon so sehr angewachsen, dass sie in der Wirtschaft gar nicht mehr gewinnbringend unterzubringen sind?
Warum wird das alles in der Diskussion ausgeklammert? Wozu brauchen wir, d.h. Privathaushalte und Wirtschaftsunternehmen, eigentlich all die „neuen Finanzprodukte”? Worin besteht ihr Nutzen für unsere Gesellschaft und/oder für eine gedeihliche Weltentwicklung? Ein Nutzen, der über den Nutzen von einfachen, durchschaubaren, klar geregelten Krediten, die die Wirtschaft und bisweilen auch Privathaushalte und ganze Länder brauchen, hinausgeht? Worin liegt für Wirtschaft und Gesellschaft der zusätzliche Vorteil der Undurchschaubarkeit der „neuen Finanzprodukte”? Schneiden sie, die Vertreter unseres Systems, die Politiker, Experten, Journalisten diese Fragen nicht an, weil sie der Meinung sind, die Antworten wären Allgemeingut und das Publikum wüsste das alles ohnehin? Oder reden sie deshalb nie darüber, weil sie es selber nicht wissen? Sie könnten das mit gutem Gewissen zugeben, denn selbst Beamte der Bank of England (das ist die englische Notenbank) mussten sich von einem Praktiker aus der Finanzwelt erst erklären lassen, was die „Finanzprodukte”, die beim Bankrott der der Northern Rock Bank 2007 eine Rolle gespielt haben, jene berüchtigten CDOs (‚Collaterised Debt Obligations’) eigentlich sind.[1]
Was soll man davon halten, wenn aus dem Munde des Finanzministers angesichts der Finanzkrise zu hören ist, der Finanzsektor müsse stärkeren staatlichen Regulierungen und Kontrollen unterzogen werden, aber gleich hinzufügt wird, man dürfe nicht das Kind mit dem Bade ausschütten und unsere Banken der Instrumente berauben, die sie für den globalen Wettbewerb brauchen? Warum stellt er den neuen Finanzinstrumenten diesen politischen Blankoscheck aus? Will er vielleicht nichts anderes sagen, als dass die anderen mit Haken und Ösen kämpfen und uns deshalb gar nichts anderes übrig bleibt, als auch mit Haken und Ösen zu kämpfen?
Doch noch tiefer an die Selbstverständlichkeiten unseres Finanz- und Wirtschaftssystem reichende Fragen drängen sich auf. Wozu braucht eine Gesellschaft überhaupt die Spekulation? Und noch ketzerischer gefragt: Brauchen wir wirklich eine Börse? Nun, das gängige Argument ist bekannt: Beschaffung von Kapital für Unternehmen, Verteilung des unternehmerischen Risikos auf mehrere Schultern. Doch wenn man sich vor Augen hält, dass heute bei uns gerade mal 2% des Aktienhandels diesem Ziel dienen (Kauf von jungen Aktien) und der ganze große Rest nichts anderes ist als ein Hin- und Herverkauf von Aktien zwischen Spekulanten[2], kommen Zweifel auf. Ließe sich nicht der positive Effekt für die Wirtschaft viel effizienter und mit geringeren gesellschaftlichen Kosten auf der Basis von Krediten erzielen (die ja ohnehin für die Kapitalversorgung der Unternehmen eine zentrale Rolle spielen), ergänzt durch staatliche Garantien, Forschungsförderung usw. für interessante, zukunftsträchtige, aber besonders riskante unternehmerische Projekte (Verfahren, die ja ebenfalls in der Realität schon eine wichtige Rolle spielen)? Man könnte sich dann das alltägliche Trommelfeuer an Informationen und Kommentaren zu steigenden oder fallenden Aktienkurse in allen Medien, Tageszeitungen, Nachrichtensendungen in Radio und Fernsehen usw. ersparen, die von der Allgemeinheit bezahlt nur den Spekulanten nutzen (falls sie ihnen tatsächlich nutzen, ich meine, den „kleinen” Spekulanten, die „großen” haben sowieso ganz andere Informationsquellen). Käme ein Bewohner eines anderen Sterns auf die Erde und würde mit der Informationsflut über das Börsen-Auf-und-Ab konfrontiert, er hätte den Eindruck, dass es sich hierbei um ganz lebenswichtige Informationen für das Funktionieren der irdischen Wirtschaft handeln müsste, aber ich fürchte, auf seine Frage, worin diese Lebenswichtigkeit besteht, wird ihm niemand eine befriedigende Antwort geben. Oder sind diese Informationen vielleicht doch von allgemeinem Interesse, weil das Fallen und Steigen der Kurse eine Art Seismograph oder Barometer für die wirtschaftliche Situation darstellt? Doch da sind gleich wieder die Zweifel auf dem Plan: Nützen die Kurswerte der Börsen tatsächlich dem einzelnen Unternehmen oder der Gesellschaft als Ganzes? Haben sie z.B. General Motors einen rechtzeitigen Hinweis darauf gegeben, dass die entwickelten Modelle angesichts der Zukunftsprobleme der Welt Anachronismen sind? Oder haben sie die Gesellschaft vor der heraufziehenden Finanz- und Wirtschaftskrise gewarnt? Ich denke, dass kritische und unabhängige Wissenschaft doch ein etwas besseres Instrument der Gefahrenfrüherkennung ist. Doch ganz abgesehen davon, dass sich aus den aktuellen Börsendaten kaum eine zuverlässige und nützliche Aussage für die Zukunft ableiten lässt (wie die Vergangenheit immer wieder gezeigt hat[3]), wird hier etwas als Hilfsmittel in einer Problemlage hingestellt, was diese Problemlage selbst wesentlich verursacht. Die Wirtschaft ist der Macht spekulierender (Groß)Aktionäre bzw. der Manager der großen Fonds und ihren Interessen unterworfen, und das Auf und Ab der Aktienkurse hat viel mit dieser Macht zu tun. Börse und Börsenspekulation richten die Unternehmen auf die Interessen der „Shareholder” aus, d.h. auf die Vermehrung von deren Vermögen. Dabei sind nicht etwa kontinuierlich gut wirtschaftende Unternehmen, deren Aktienkurse aufgrund ihrer Leistungen stetig wachsen, das, was Spekulanten brauchen. Sie brauchen den raschen Anstieg, gefolgt von Einbrüchen, günstige Gelegenheiten für Einstieg und Ausstieg aus der Aktie. „Gute” Unternehmen sind für den Spekulanten wagemutige Unternehmen, die schnell mal ein paar Tausend Mitarbeiter entlassen, andere Unternehmen aufkaufen, sich immer wieder neu „am Markt aufstellen”. Ein strukturelles Desinteresse der Spekulation am Wohlergehen der Unternehmen! Kann diese massive negative Wirkung der spekulierenden Börse durch die positive Wirkung der Börse als Kapitalbeschaffer überkompensiert werden? Wenn es den Spekulanten wirklich nur um das Vergnügen der Wette ginge und die Chance auf leistungslose Einkommen, warum gehen sie nicht ins Casino? Darauf gibt es eine ganz einfache Antwort: weil sie da den Ausgang der Wette nicht beeinflussen können. An der Börse jedoch sind sie Mitspieler in einem realen Geschehen. Sie können durch Politik Einfluss nehmen, ihr Geld mit strategischen Absichten dahin oder dorthin lenken und damit Bewegungen auslösen, sie können Gerüchte streuen und Insiderwissen nutzen. Spekulation ist viel interessanter, aber zugleich viel folgenreicher für Wirtschaft und Gesellschaft, als es das Casino ist.
Warum nehmen wir fraglos hin, dass die Dinge so laufen? Warum stellen wir diese Fragen nicht in der öffentlichen Diskussion? Warum werden die Politiker so schnell wieder handzahm, nachdem sie sich, als das Ausmaß der Finanzkrise offenbar wurde, zu einigen zornigen Aussagen haben aufraffen können – angesichts der extremen Auswüchse des Fehlverhaltens und des Schadens, der angerichtet wurde, kein besonders mutiges Aufbegehren? Warum weichen sie nach wie vor allen tiefer gehenden Fragen aus? Aufgrund welcher Macht gelingt es – selbst in einer Finanzkrise, die als die größte seit 1929 bezeichnet wird -, dass es keiner der „Offiziellen”, kein Politiker, kein Experte, kein Kommentator in den Medien gewagt hat, das Grundproblem unseres Geldsystems, die Selbstverständlichkeit des Anrechtes auf ein „Einkommen auf Vermögen”, das notwendigerweise zulasten der Arbeitseinkommen gehen muss, auch nur entfernt anzusprechen?
Das sind nur einige der Fragen, die sich durch die Finanzkrise aufdrängen; durch die jetzt mit Macht heraufziehende Wirtschaftskrise kommen weitere hinzu. Überall wird die Gefahr der Wirtschaftskrise beschworen. Düstere Prognosen sprechen davon, dass unsere Wirtschaft um 5% schrumpfen könnte. Warum macht uns das solche Angst? Wir gehören in der Welt zu der Minderheit reicher Länder. Was wäre das für ein Unglück, wenn wir alle 5% weniger an Einkommen hätten? Doch da steht etwas ganz anderes Haus, und wir alle wissen es: viele Menschen werden arbeitslos, Existenzen werden vernichtet, sozialen Spannungen wachsen, Extremismus und Gewaltbereitschaft bekommen zusätzliche Nahrung. Aber warum ist das so? Warum funktioniert unser System nur dann einigermaßen, wenn die Wirtschaft wächst? Und sind wir damit nicht grundsätzlich von etwas abhängig, was auf die Dauer weder möglich noch wünschenswert ist? Dabei sagen uns die Experten, z.B. der Weltbank, dass wir, die reichen Länder noch einigermaßen glimpflich davon kommen werden, wenn jetzt die Weltwirtschaft zurückgeht, während die Entwicklungsländer verheerende Auswirkungen zu tragen haben. Warum in aller Welt ist das aber so? Dort besteht doch mit Sicherheit jede Menge an handfestem Bedarf nach Gütern und an verfügbarer Arbeitskraft. Haben wir diese Länder so abhängig von uns gemacht, dass sie nur dann einigermaßen über die Runden kommen, wenn bei uns die Wirtschaft rund läuft? Und ist die Abhängigkeit dieser Länder von uns, vor allem von unserem Kapital (die Weltbank spricht zurzeit von einer Finanzlücke dieser Länder von 700 Mrd. $), aber auch vom Export von Produkten (z.B. Blumen), die nur auf den Märkten der reichen Länder abzusetzen sind, im Interesse dieser Länder entstanden? In der Krise jedenfalls erweist sich diese Abhängigkeit nicht gerade als hilfreich für sie. Und warum werden, wenn irgendwo der Gedanke aufkommt, dass es ein vernünftiges und tragfähiges Zukunftskonzept sein könnte, wenn alle Länder sich stärker auf ihre eigenen Ressourcen und ihren eigenen Markt besinnen und Abhängigkeit von anderen etwas abbauen würden, sofort die Keulen „Isolationismus” und „Protektionismus” geschwungen? Diese und weitere Fragen werden durch die Wirtschaftkrise wie durch ein Vergrößerungsglas deutlicher werden. Doch damit steht noch lange nicht fest, dass sie eine zentrale Bedeutung für die endlosen Debatten in den Medien erlangen werden. Ich denke, die Fragen werden nicht deshalb nicht gestellt, weil es auf sie keine Antworten und zu den Fehlentwicklungen keine Alternativen gäbe, sondern allein deshalb, weil in unserer Gesellschaft so wenig Hoffnung existiert, mit ihnen angesichts der Übermacht der großen Interessen, der strukturellen Verflechtungen und der eingefahrenen Denkgewohnheiten durchzudringen.
[1] Vgl. Nicolas Hildyard: A (Crumbling) Wall of Money, Financial Bricolage, Derivatives and Pover, The Corner House, UK, www.thecornerhouse.org.uk (8.10.2008 Work in Progress), S.2f. und S.12
[2] Vgl. Helmut Creutz: Die 29 Irrtümer rund ums Geld, Signum, München-Wien, 2.Aufl. 2005, S.103
[3] Ende 2008 stand der Dax unter 5000. Zu Beginn des Jahres 2008, als der Dax noch bei 8000 Punkten lag, haben z.B. die SZ-Börsen-Kolumnisten einen Dax-Stand für Ende 2008 zwischen 8000 und 9000 vorausgesagt (vgl. Sächs. Zeitung vom 29.1.2009, S.23) – und das zu einem Zeitpunkt, als sich die Finanzkrise bereits ein halbes Jahr lang in den USA abzuzeichnen begann. Der Dax-Stand selber, der sich in dieser Zeit (2.Hälfte 2007) zwischen 7500 und 8000 fröhlich auf und ab bewegte, erwies sich offensichtlich als ein sehr „blindes” bzw. äußerst „kurzsichtiges” Instrument, das den Analysten wenig Hilfreiches für eine zuverlässige Prognose lieferte. Ein Seismograph, der ausschlägt, wenn die Häuser schon einstürzen, nützt den Betroffenen wenig.